Frau Chernivsky, Sie leiten das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sowie die Beratungsstelle OFEK – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Melden sich dort derzeit mehr Personen als sonst?
Der Bedarf hat sich in wenigen Tagen verdreifacht, es sind mehr als 100 Anfragen eingegangen. Ein Großteil bezieht sich auf antisemitische Gewaltfälle und Diskriminierung. Das sind judenfeindliche Vorfälle an Schulen, Hochschulen und am Arbeitsplatz, die nun stark im Fokus stehen. Ein Teil der Beratungsanfragen geht auch aus dem Bedarf nach psychosozialer und psychologischer Unterstützung hervor.
Wie bewältigen Sie und Ihr Team das?
Die Art und das Ausmaß des Terrors gegen die Zivilbevölkerung in Israel erschüttert. Ich habe das Gefühl, wir befinden uns gerade im kollektiven Trauerprozess. Gleichwohl ist diese Erfahrung stark asymmetrisch, weil die Auswirkungen des Krieges im nichtjüdischen Umfeld nicht zwingend eingesehen werden.
Was bedeutet das?
Dass die jüdische Gemeinschaft vor eine doppelte Herausforderung gestellt wird: den Schock zu verarbeiten, mit hohen Verlusten umzugehen und gleichzeitig die antisemitische Grundstimmung und Sicherheitsfragen hierzulande zu bewältigen. Das alles erzeugt eine hohe Anspannung und einen großen Beratungsbedarf. Der Krieg in der Ukraine stellt ebenfalls eine noch nicht ganz bewältigte Belastung dar. Diese Belastung trifft auch auf das Team von OFEK zu. Gleichzeitig war uns klar, dass wir mit entsprechenden Angeboten darauf reagieren müssen.
Wie organisiert sich OFEK derzeit?
Wir haben ein Krisenteam gebildet, Zeiten unserer bundesweiten Hotline verlängert, die Beratung von Gemeinden, Kitas und Schulen priorisiert, Gesprächsformate für Eltern, Studierende und andere Gruppen entwickelt. Alle anderen Maßnahmen mussten bis auf Weiteres abgesagt oder verschoben werden. OFEK bietet zusätzlich zu der umfassenden Beratung bei antisemitischen Vorfällen auch psychologische Hilfe in Deutsch, Englisch, Hebräisch und Russisch. Es gibt ein psychologisches Online-Angebot, Supervision und Beratung für Gruppen. Besonders das Angebot für Eltern, Kita- und Schulleitungen sowie Supervision von Teams in jüdischen Einrichtungen wird stark angefragt. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass die Selbstfürsorge nicht aus dem Blick gerät.
Wie sieht es beim Projekt MATAN aus?
Mit MATAN haben wir vor zwei Jahren zusammen mit der ZWST und ICE (Israeli Community Europe) eine Helpline geschaffen, die Menschen in Notlagen eine telefonische seelsorgerische Unterstützung auf Iwrit gibt. Auch die Zeiten von MATAN wurden verlängert, obwohl das Team mehrheitlich ehrenamtlich tätig ist. Die israelische Community ist stark belastet. Die laufende Statistik zählt bisher 30 Gespräche. Aktuell bietet MATAN psychologisch angeleitete Gruppengespräche auf Hebräisch an.
Bietet OFEK Beratungen für Schulen an?
Ein Großteil der antisemitischen Vorfälle kommt aus dem Bildungsbereich. Das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment bietet zusammen mit OFEK eine Digitale Sprechstunde für Fachkräfte im Online-Format an. Die ersten Termine waren sehr gut besucht; weitere sind in Planung. Es ermöglicht Fachkräften eine erste fachliche Einordnung und Supervision ihrer Erfahrungen und Interventionsformen. Die Resonanz und Fragen, die im Rahmen dieser Veranstaltungen aufkommen, offenbaren einen großen Bedarf und teilweise die Ratlosigkeit im Umgang mit Antisemitismus im schulischen Kontext.
Wie würden Sie die seelische Situation der Juden und Israelis in Deutschland beschreiben?
Wir sprechen von einem Großschadenereignis mit extrem traumatischer Wirkung für direkt Betroffene und ihre Angehörigen, aber auch für die gesamte jüdische Gemeinschaft. Neben diesem Effekt dürfen die Resilienz und die kollektive Überlebenskraft nicht aus dem Blick geraten.
Gibt es dafür ein Rezept?
Ich denke, dass die Bewältigung sehr unterschiedlich ausfällt. Wir werden das aber gemeinsam überstehen.
Mit der Psychologin sprach Christine Schmitt.