Anna und Andriy sitzen unruhig auf ihren Stühlen. Die beiden Studenten können den Beginn des Hannah-Arendt-Seminars kaum erwarten. Sie haben sich intensiv vorbereitet auf die dreitägige Veranstaltung des Zentralrats der Juden in Berlin; sie haben gelesen, recherchiert und ihre Fragen aufgeschrieben.
»Ich verbinde viel mit Hannah Arendt«, sagt Anna Kijaniza, die Kunstgeschichte und Politik studiert und sich sehr für Philosophie begeistert. Nicht nur die Rolle als Denkerin in einer von Männern dominierten akademischen Welt, sondern auch die Vielseitigkeit Arendts gefallen der gebürtigen Ukrainerin.
Ihren Kommilitonen Andriy Zyatkovskyy interessiert vor allem Arendts Position zu Israel. Darüber hinaus erhofft sich der Mathematikstudent spannende Diskussionen – und nicht zuletzt auch abwechslungsreiche Begegnungen mit den anderen Teilnehmern.
generalprobe Wie Anna und Andriy sind vergangene Woche rund 30 Teilnehmer nach Berlin-Mitte gekommen, um an dem Seminar über Hannah Arendt teilzunehmen. Die Veranstaltung bildet den Auftakt der Reihe »Jüdisches Wissen« mit insgesamt vier Seminaren in diesem Jahr. »Eine Art Generalprobe« sei die Veranstaltung, erklärt die Leiterin der Bildungsabteilung, Sabena Donath. »Wir wissen selbst noch nicht genau, was uns in den kommenden drei Tagen erwartet.«
Passend dazu lautet das Motto des ersten Vortrags »Hannah Arendt. Einführung in ein Denken ohne Geländer«. Antonia Grunenberg vom Hannah-Arendt-Zentrum Oldenburg spielt mit dem Titel da- rauf an, dass Arendt sich einem Thema stets ergebnisoffen näherte – und damit polarisierte. Bereits wenige Jahre nach der Schoa beschäftigte sich Arendt etwa mit der Rolle der Täter. Dies sei bei den Holocaust-Überlebenden auf massive Kritik gestoßen. »Man warf Arendt vor, die Perspektive der Opfer auszublenden. Dabei wollte sie nur herausfinden, wodurch ein Mensch wie Eichmann zum Massenmörder wurde.« Arendts Ergebnis: Eichmann sei nicht der personifizierte Teufel, sondern ein gewissenloser, fatal dienstgehorsamer Bürokrat gewesen, ein »Hanswurst«.
Seminarteilnehmerin Edith Rose findet diese These ungeheuerlich. »Das klingt, als würde Arendt Eichmann von aller Verantwortung freisprechen.« Die 61-jährige Frührentnerin aus Hamburg ist mit ihrer Freundin Judith Kahn nach Berlin gereist. Gemeinsam wollen sie an den drei Tagen wieder mehr über die Philosophin erfahren, mit der sie sich während ihrer Studienzeit in den späten 60er-Jahren intensiv beschäftigt hatten.
»Nein«, entgegnet Kahn, »Arendt hat Eichmann nicht freigesprochen.« Sie habe vielmehr aufgezeigt, wie simpel Eichmann gewesen sei. »In dieser Einfalt besteht ja gerade seine Monstrosität.« Mit dieser Beschreibung sei Arendt ihrer Zeit weit voraus gewesen. »So etwas wollte in den 60ern keiner hören«, erinnert sich Kahn. »Arendt hat gestört und verstört.«
lebensweg Am zweiten Seminartag nähern sich die Teilnehmer Hannah Arendt über ein TV-Interview mit ihr aus dem Jahr 1964. Im Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus erzählt Arendt darin von ihrem Lebensweg und legt ihre Sicht der politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts dar. Es wird rasch deutlich: Arendt war mitnichten die distanzierte politische
Theoretikerin, als die sie vielen erschien. »Ich habe Arendt zum ersten Mal ›live‹ gesehen und bin überrascht, wie emotional und unakademisch sie war«, berichtet die BWL-Studentin Janin aus Düsseldorf. »Ganz anders als in ihren Schriften.«
Klara Behnke, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bad Pyrmont, hat sich im Vorfeld des Seminars nie mit Hannah Arendt beschäftigt. Das Interview gefällt ihr so gut, dass sie es demnächst in ihrer Gemeinde zeigen möchte. »Arendt war eine selbstbewusste und unabhängige Frau – wir brauchen solche Rollenmodelle.«
Ruth Grünberg aus Stuttgart interessiert hingegen Arendts Selbstverständnis als jüdische Außenseiterin am meisten. »Sobald man wie Arendt über Israel andere Standpunkte als die Mehrheit vertritt, wird es oft sehr anstrengend. Das verbindet mich doch sehr mit ihr.«
selbstverständnis Um Hannah Arendts jüdisches Selbstverständnis zwischen Assimilation und Zionismus geht es schließlich in Hans-Jörg Sigwarts Vortrag am letzten Veranstaltungstag. Der Dozent von der TU Darmstadt bezieht die Teilnehmer mit ein und fragt, wie sie über Arendt denken und was sie aus dem Seminar mitnehmen. »Puh«, sagt Judith Neuwald-Tasbach und atmet tief ein. »Das war so viel Input, das muss ich alles erst einmal sacken lassen und darüber nachdenken.«
Für Nurith Schönfeld aus Frankfurt ist das Seminar Anlass, in ihrer Schulklasse den Verantwortungsbegriff bei Arendt zu diskutieren. »Sie hat gezeigt, dass Freiheit an Verantwortung geknüpft ist«, sagt die Religionslehrerin der I. E. Lichtigfeld-Schule. »Wenn mich meine Schüler fragen, wie Gott die Schoa zulassen konnte, werde ich mit ihnen Arendts Thesen diskutieren. Das Seminar war definitiv eine Bereicherung.«
Bilanz Wo Licht sei, sei auch Schatten, meint hingegen Deborah aus Berlin. »Eine jüdische Veranstaltung, bei der niemand meckert, gibt es nicht.« Die Rentnerin beschwert sich über den Durchzug im Seminar und findet es ungerecht, dass ihre Sitznachbarin mehr sprechen durfte als sie. Diese wiederum hadert mit dem Lunchpaket, das der Zentralrat den Teilnehmern nach Abschluss des Seminars ausgeteilt hat. »Viel zu wenig drin«, befindet sie kritisch.
Umso positiver fällt am Ende des Seminars das Resümee der Leiterin der Bildungsabteilung aus: »Wir sind zufrieden, dass von Jung bis Alt über Berlin bis Baden so viele Interesse gezeigt und mitdiskutiert haben.«
Dialektisch geschult verweist Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, angesichts des Andrangs auf mögliche Probleme bei zukünftigen Veranstaltungen. »Wenn beim ersten Seminar so viele teilgenommen haben, werden wir früher oder später Platzschwierigkeiten bekommen.« Für mehr als rund 100 Teilnehmer sind die Räume der neuen Bildungsabteilung nicht geeignet.
Das indes ist ein Luxusproblem. Es zeigt, dass die Idee einer künftigen jüdischen Akademie schon jetzt gut angenommen wird. Das Ziel, der jüdischen Welt in Deutschland ein Forum für Wissen und Diskussionen zu geben, ist bereits heute ein Stück weit Gegenwart. Der Anfang ist gemacht. Generalprobe geglückt.