Ich soll Sie alle von Ivan Ivanji aus Belgrad, dem Schriftsteller, dem Theaterdirektor, dem Diplomaten, dem Goethe-Übersetzer, sehr, sehr herzlich grüßen. Und jetzt seine Rede.» Volkhard Knigge, der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, blickt auf ein Blatt Papier und in die Menge der Menschen auf dem ehemaligen Appellplatz des Konzentrationslagers Buchenwald.
Mindestens 80 Überlebende, Zeitzeugen aus Russland, der Ukraine, aus Belgien, Frankreich, Kanada, der Tschechischen Republik, Israel und vielen anderen Ländern, sind am 12. April auf den Ettersberg gekommen. 80, die jene dramatischen Tage vor 70 Jahren hier erlebt und das Martyrium nur knapp überlebt haben.
56.000 Tote «Liebe treue Kameraden, liebe Mitmenschen ...» Ivan Ivanji kann nicht dabei sein, seiner schwer erkrankten Frau zuliebe habe er der Veranstaltung fernbleiben müssen, lässt er wissen. Volkhard Knigge liest stellvertretend seine Worte. Hinter ihm sind die Fahnen jener Länder zu sehen, die Hunderte oder Tausende Angehörige an diesem Ort verloren haben. 56.000 Menschen aus 50 Nationen starben im Lager Buchenwald und den 136 Außenlagern. Etwa 21.000 Menschen wurden als Überlebende gezählt, als am 11. April 1945 gegen 15 Uhr Widerstandsgruppen politischer Häftlinge die Kontrolle übernahmen.
Einer der Überlebenden ist der Sohn einer jüdischen Arztfamilie: Ivan Ivanji. In der von ihm verfassten Rede stand der Schwur der Buchenwald-Häftlinge im Mittelpunkt, dessen letzte Zeilen lauten: «Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig. Zum Zeichen der Bereitschaft für diesen Kampf, erhebt die Hand zum Schwur.»
Erinnerung Auf Englisch, Französisch, Russisch, Polnisch und Deutsch – so Ivanji – ertönten die Worte: «Wir schwören.» Auch Günter Pappenheim war damals dabei und hat jetzt seine Finger zum Schwur erhoben: «Uns haben die Tränen in den Augen gestanden. Wir sind uns in die Arme gefallen. Es war der Tag der Freude, und es war der Tag des Leidens, weil wir 56.000 unserer Kameraden verloren haben – für nichts und wieder nichts. Aber sie bleiben bei uns in Erinnerung als diejenigen, die hier die Vorbereitungen geschaffen haben, dass viele Häftlinge im Laufe der Zeit überleben konnten.»
Zahlreiche Veranstaltungen erinnerten am vergangenen Wochenende in Weimar an die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald vor 70 Jahren. Bei einer Gedenkfeier am Sonntag im Deutschen Nationaltheater sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD), Europa verneige sich vor den Opfern. Er dankte den Überlebenden ausdrücklich für ihren «schmerzhaften Weg des Erinnerns». Durch Zeugnisse einst inhaftierter Politiker, Schriftsteller, Künstler und Geistlicher werde der Terror in den Konzentrationslagern vor dem Vergessen bewahrt. Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Tröglitz äußerte sich Schulz besorgt über eine zunehmende Fremdenfeindlichkeit.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte bei dem Gedenkakt im Nationaltheater, die amerikanischen Soldaten hätten 1945 hinter dem Eingangstor von Buchenwald «die Apokalypse» gesehen. Das Vermächtnis der Überlebenden sei heute Grundkonsens des demokratischen Selbstverständnisses in Thüringen. Dazu gehöre auch das Eintreten gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen sei humanitäre Pflicht und ein Auftrag der Nächstenliebe, betonte Ramelow.
Jugend Der Präsident des Internationalen Buchenwald-Komitees, Bertrand Herz, appellierte an die Jugend, sich überall für Freiheit und Menschenrechte sowie gegen Antisemitismus und Rassismus einzusetzen. Solange es Fremdenhass und Unterdrückung in der Welt gebe, sei der «Schwur von Buchenwald» noch nicht erfüllt.
Günter Pappenheim war dabei. Von 1943 bis 1945 war er KZ-Häftling auf dem Ettersberg bei Weimar. Der Grund seiner Inhaftierung? Der war simpel, erzählt der hochbetagte Mann. Er habe einem französischen Kriegsgefangenen auf einem Akkordeon die Marseillaise vorgespielt, weil dieser so großes Heimweh gehabt und sich das Lied gewünscht habe.
An jene Tage im April vor 70 Jahren erinnert er mit fester Stimme: «Es war der Vormarsch der 3. US-Armee auf Weimar und Buchenwald. Hier unten, in dem Gebäude der Geräte- und Effektenkammer, habe ich gearbeitet. Hier unten sind die bewaffneten Häftlinge marschiert, sind ans Tor gegangen, und ich habe sie rufen hören: ›Kameraden, wir sind frei!‹» Bereits am 19. April 1945 wurde erstmals an diesem Ort des Terrors der Toten gedacht und der Schwur geleistet, alles zu tun, damit nie wieder Faschismus Menschenleben vernichten könne. «Ich war nicht mehr die 22.514, ich war wieder freier Bürger. Ich konnte wieder nach Hause zu meiner Familie», erinnert sich Pappenheim.
Doch ungetrübt ist diese Erinnerung offenbar nicht. So streiten sich am Rande der Gedenkveranstaltung Zuschauer über die Redebeiträge. Seit den 90er-Jahren ist die Frage offenbar bei manchen immer noch virulent, wie das Lager befreit worden ist und welchen Anteil die Häftlinge daran hatten. Die Diskussionen lassen noch immer auf verhärtete Fronten schließen.
Häftlingsaufstand Rüdiger Bender, Lehrbeauftragter der Universität Erfurt, erklärt die Sicht der Historiker: «Es gab vor 70 Jahren tatsächlich die Vorbereitung auf einen Häftlingsaufstand. Aber der sollte deutlich nach April stattfinden. Es gibt unterschiedliche Angaben dazu, manche sprechen von Juli oder August, doch dann kamen die Amerikaner, und die verkündeten: ›Durchsage an die SS – alle Mannschaften verlassen sofort das Lager.‹ Kurze Zeit später erschallte dann die Durchsage des Häftlingskameraden: ›Das Lager ist in unserer Hand!‹» Überliefert ist auch, dass es einen Rabbiner in der US-Armee gegeben hat, der Häftlingen in einer Sprachmischung aus Jiddisch und Hebräisch sagte, sie seien jetzt frei und müssten keine Angst mehr haben.
Der Schwur sei eine Ehre, aber auch eine schwere Last, so hatte es Ivan Ivanji in seiner Rede formuliert. Er sei stolz darauf, aber nicht sorgenfrei. Denn: «Könnte man ruhigen Gewissens diesen Schwur erneut leisten? Haben wir das beschworene Ziel erreicht? Dürfen wir wenigstens sagen, es sei in absehbarer Nähe? Oder haben wir gar versagt?»
Wegschauen Es sind Fragen, die an jenem Nachmittag auf dem Gelände der heutigen Gedenkstätte viele Menschen beschäftigen. Auch Reinhard Schramm, den Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. «Ich habe doch das Gefühl, dass sich sehr viele Menschen in Deutschland darum kümmern, dass man Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus entgegenstehen muss. Anderseits wissen wir auch, dass in der Mitte der Gesellschaft sehr viele abwarten, wegschauen oder sich nicht interessieren. Und diese Gleichgültigkeit ist vielleicht eine viel größere Gefahr.»
Die mahnenden Worte aller Redner waren nicht zu überhören und erinnerten an die Anschläge von Paris und Kopenhagen, an Rassismus und Antisemitismus. «Ich denke, dass eine gewisse Tragik darin liegt, dass der Schwur zwar gesprochen ist, aber letzten Endes das Ziel in der heutigen Welt nicht voll erreicht wird. Insofern können wir froh sein, wenn wir heute noch Überlebende haben, die daran erinnern, dass die Welt wirklich besser sein muss und dass wir tätig sein müssen», sagt Schramm, der den Festakt mitverfolgt. Zeitzeugen kamen zu Wort, vielleicht ein letztes Mal so ausführlich.