Lernziel: Respekt! 2012 hatten sich je sechs jüdische und muslimische Jugendliche mit rechter Gewalt in Deutschland, Diskriminierung und Zivilcourage auseinandergesetzt. Ein Ergebnis des Projektes »Köfte Kosher« war die gemeinsame Gestaltung eines Erinnerungsorts im Bremer Stadtzentrum.
Auf einen Steinpavillon sprühten die Jugendlichen die Porträts von zwölf Personen, die in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland ermordet wurden. Getötet wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder weil sie obdachlos waren.
Heute ist der Erinnerungspavillon weitgehend verwahrlost, als Teil der »Köfte Kosher«-Neuauflage wird er nun umgestaltet. »Der viele Dreck und die teils von Graffiti übersprayten Porträts der Ermordeten machen eine Restaurierung notwendig«, sagt Irina Drabkina. Die 33-Jährige gehört zum Projektteam von »Köfte Kosher«.
Eines der Porträts am Pavillon zeigt Marwa El-Sherbini. Die 1977 in Alexandria geborene Handballspielerin und Pharmazeutin lebte einige Zeit in Bremen – und wurde 2009 im Landgericht Dresden ermordet. Dort war sie als Zeugin geladen, um im Prozess gegen Alex Wiens auszusagen, der El-Sherbini auf einem Dresdner Spielplatz als »Islamistin«, »Terroristin« und »Schlampe« beleidigt hatte.
Geldstrafe Dagegen hatte sich El-Sherbini rechtlich zur Wehr gesetzt, das Amtsgericht Dresden erließ gegen Wiens einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe. Wiens legte Einspruch ein, sodass es zu einer Hauptverhandlung kam. Auf dem Weg aus dem Gerichtssaal ermordete er die im dritten Monat schwangere El-Sherbini mit 18 Messerstichen. Noch in der Verhandlung hatte der Russlanddeutsche behauptet, »solche Leute« wie El-Sherbini seien keine »richtigen Menschen«.
Der Platz an der Humboldtstraße wird jetzt in »Marwa-El-Sherbini-Platz« umbenannt und soll an die junge Frau erinnern. »Der gesellschaftliche Umgang mit der Ermordung von El-Sherbini ist skandalös«, sagt Elianna Renner, die »Köfte Kosher« leitet. Die deutschen Medien hätten die Ermordung erst aufgegriffen, nachdem bereits international berichtet worden war.
Ähnlich kritisch bewertet Renner den gesellschaftlichen Umgang mit einem weiteren Opfer rechter Gewalt, an das der Bremer Gedenkpavillon erinnert: Mehmet Kubasik, der 2006 vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in Dortmund ermordet wurde. In Bezug auf den NSU zeige sich vor allem ein mangelnder Wille, dessen Unterstützernetzwerke lückenlos aufzudecken, die Täter angemessen zu bestrafen sowie die tendenziöse Presseberichterstattung aufzuarbeiten, sagt Renner.
»Mit ›Köfte Kosher‹ wollen wir Jugendlichen vermitteln, wie wichtig es ist, Verantwortung für Mitmenschen zu übernehmen und sich politisch gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu engagieren«, sagt die 40-Jährige. Irina Drabkina ergänzt: »Es ist im Interesse der Gesamtgesellschaft und nicht nur der direkt Betroffenen, menschenfeindlichen Diskriminierungen entgegenzutreten.«
In Bremen hat der Umbenennungsbeschluss nicht nur positive Reaktionen hervorgerufen. Im Zuge der publikumsoffenen Beratungen im zuständigen Stadtteilbeirat kam es zu rechtslastigen und frauenfeindlichen Äußerungen von einigen Anwohnern – »nahezu ausschließlich Männer, ohne Migrationshintergrund und im Ruhestand«, erzählt Beiratsmitglied Daniel de Olano. Der SPD-Politiker war schon 2012 für die Umbenennung in Marwa-El-Sherbini-Platz eingetreten. »Mit der anstehenden Restaurierung des Erinnerungspavillons bot sich die Gelegenheit, einen zweiten Anlauf zu unternehmen«, sagt de Olano. Alle Beiratsfraktionen – von Linkspartei bis CDU – stimmten für die Namensgebung im Oktober.
Wutbürger »Es ist zu erwarten, dass eine Platzbenennung nach einer Muslimin Reaktionen bei Teilen der Öffentlichkeit auslöst«, befürchtet de Olano. In der entscheidenden Sitzung des Beirats wurde von einem der Wutbürger sogar Marwa El-Sherbinis Status als Opfer rechter Gewalt infrage gestellt. Schließlich sei der Täter »kein Deutscher« gewesen, hieß es.
Die Neuauflage von »Köfte Kosher« ist wesentlich umfangreicher als der Vorgänger und richtet sich nicht mehr ausschließlich an jüdische und muslimische Jugendliche. Seit Februar haben 18 Schülerinnen und Schüler aus der berufsorientierenden Wilhelm-Wagenfeld-Schule an der Umgestaltung des Gedenkpavillons mitgewirkt. »Über mehrere Monate hinweg haben meine Schüler zu den Biografien der zwölf Opfer rechter Gewalt recherchiert und anschließend künstlerische Arbeiten zum Gedenken an sie entworfen«, erzählt Christian Maier-Kahrweg, Lehrer im Fach Gestaltung und Multimedia.
Stadtgesellschaft Seine Klasse biete selbst einen »Querschnitt durch die Bremer Stadtgesellschaft«, und entsprechend hätten einige Schüler auch Erfahrung mit Diskriminierung machen müssen, berichtet Maier-Kahrweg. Erschreckend findet Elianna Renner, dass einige der zwischen 15 und 20 Jahre alten Jugendlichen den Nationalsozialismus im Unterricht gar nicht behandelt haben.
»Das Klischee, diese Ära sei in den Schulen überrepräsentiert, stimmt also nicht«, sagt die Künstlerin. Da das Wissen über den historischen Nazismus bei »Köfte Kosher« Grundlage für die Auseinandersetzung mit heutiger rechter Gewalt bilde, hatte es deshalb teils »recht unterschiedliche Startvoraussetzungen gegeben«, erklärt Renner.
Der Pavillon wird nun bis Oktober restauriert – und durch spezielles, versiegeltes Plexiglas vor Graffiti geschützt sein. Daneben erhält der Gedenkort eine digitale Dimension: Über QR-Codes können Interessierte Informationen zu den Opfern rechter Gewalt auf ihren Smartphones abrufen und über vor Ort ausleihbare 3D-Brillen sowohl die jeweiligen Tatorte als auch anschließend kurze digitale Kunstwerke zu einzelnen Biografien ansehen.
Lebensgeschichte Ein Werk etwa imitiert eine Taxifahrt, während der die Lebensgeschichte von Belaid Baylal erzählt wird – der Besucher sieht veränderte Landschaften vorbeiziehen, die bestimmte Lebensabschnitte repräsentieren. Ein anderes zeigt einen geschlossenen Raum, in dem ein Flügel steht, aus dem Blumen zu sprießen beginnen – ein Verweis darauf, wie leidenschaftlich Alfred Salomon Musik liebte. Can Sezer, der als Virtual-Reality-Designer die Entwürfe der Schüler umsetzt, betont, wie niedrigschwellig dieser neue Erinnerungsort ausgelegt ist: »Es müssen gar keine Apps installiert werden, man kann blitzschnell loslegen.«
Außerdem wird die Universität Bremen im kommenden Wintersemester ein Seminar anbieten, das nicht nur Grundlagenwissen zu Antisemitismus und Rassismus vermittelt, sondern »Köfte Kosher« auch begleitend auswertet. Darin soll es unter anderem um die Frage nach der Wirkmächtigkeit künstlerischer Erinnerungsorte gehen. Bei Lena Schmidt aus der Wilhelm-Wagenfeld-Schule hat die Projektarbeit ein erstes Interesse und Sensiblität für das Problem der rechten Gewalt geweckt. »Auch in Zukunft möchte ich mich mit dem Thema auseinandersetzen«, sagt die 16-jährige Schülerin.