Da saßen wir nun zu viert in einem kleinen Hotelzimmer in Frankfurt. Mein Mann, unser damals neunjähriger Sohn, unsere acht Monate alte Tochter und ich. Schon vor fünf Jahren war es nicht mehr sicher in Charkiw in der Ukraine, weshalb wir uns damals nach langen Überlegungen entschieden, unsere Wohnung, unsere Eltern, Freunde und Arbeitsstellen zurückzulassen und ein neues Leben in Deutschland anzufangen.
Da eine Cousine in Frankfurt lebt, beschlossen wir, auch in die Mainmetropole zu ziehen. Unsere Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten, lagerten wir bei meinen Eltern ein, die damals in Charkiw blieben. Als wir im Hotelzimmer lebten, war ich erstaunt, wie wenige Dinge man wirklich braucht. Bei unserem Flug nach Frankfurt konnten wir leider nur ein paar Koffer mitnehmen. Jahre später schickten uns meine Eltern unsere Töpfe, Bücher und Alben nach.
hotelzimmer Doch nun konnte ich mit der Hälfte der Sachen nichts mehr anfangen, ich wusste gar nicht mehr, warum ich sie überhaupt damals eingepackt hatte. Es war eng im Hotelzimmer – kein Vergleich zu unserer Dreizimmerwohnung in der Ukraine. Wir wussten kaum, wo wir unsere wenigen Sachen ablegen konnten, und fragten nach, ob es einen Kellerraum im Hotel gebe, den wir nutzen könnten – was leider nicht der Fall war.
Erst als wir in eine eigene Wohnung ziehen konnten, ging es uns besser. Deutsch hatten wir schon in Charkiw angefangen zu lernen. Nun war es unser Ziel, die Sprache rasch zu perfektionieren, weshalb wir viele Kurse belegten.
Das Charkiw, wie ich es in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr.
Als der russische Angriffskrieg im vergangenen Frühjahr ausbrach, wusste keiner, wie man helfen könnte. Ich war damals schon im Familienzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt aktiv, und die anderen Mitarbeiter, meine Freundin, Leiterin des Familienzentrums, und ich sprachen darüber, dass wir uns um die Geflüchteten kümmern wollen.
pizza Wir beschlossen, die Hotels aufzusuchen, in denen ukrainische Geflüchtete untergekommen waren. Es waren sehr viele Menschen. Wir luden sie ein, ins Familienzentrum der Jüdischen Gemeinde zu kommen, backten gemeinsam Pizza und redeten miteinander. Recht bald waren es so viele Menschen, dass nicht mehr alle in dem doch eher kleinen Familienzentrum Platz fanden.
Wir müssen einen Ort finden, wohin wir sie einladen können, dachten wir. Ein Gemeindemitglied half: Wir konnten vorübergehend die Räume einer ehemaligen Kindertagesstätte nutzen und verschiedenste Kurse und Aktivitäten anbieten. Ohne größere Hürden konnte sich hier jeder so einbringen, wie er oder sie es mochte.
Von Deutschkursen mit begleitender Kinderbetreuung über Sport-, Mal- und Tanzkurse sowohl für Kinder als auch Erwachsene reichte das Angebot bis hin zu Führungen in Frankfurter Museen oder gemeinsamen Ausflügen. Auch Schabbat feierten wir gemeinsam. 40 bis 50 Menschen kamen täglich.
ZUHAUSE Viele der Geflüchteten dachten, dass sie nur ein paar Monate in Deutschland bleiben würden. Leider tobt der Krieg noch immer, und es ist kein Ende in Sicht. Wir boten Deutschkurse an, auch für ältere Geflüchtete, die manchmal etwas langsamer lernen. Das Willkommenszentrum war ein »Zuhause weg von zu Hause«. Nach einem Jahr mussten wir die Räume aufgeben. Im Mai zog das Willkommenszentrum aus und ist nun an anderen Orten der Jüdischen Gemeinde Frankfurt untergebracht.
Als wir im Mai das letzte Mal in den Räumen saßen, philosophierten wir. Das sind nur die Wände und Räume, die wir nun hinter uns lassen. Die Abschiedsfeier bot die Möglichkeit, sich zu erinnern, wie wir diese Zeit verbracht haben, wie wir Freundschaften geschlossen haben und zusammengewachsen sind.
Jeder Abschied ist traurig, aber unter dem Motto »Wir machen weiter« finden viele unserer Angebote an anderen Orten in der Gemeinde, im Wesentlichen im Familienzentrum im Westend, weiterhin statt.
SOMMERHAUS Das Charkiw, wie ich es in Erinnerung habe, gibt es nicht mehr. Auch meine Freunde sind nicht mehr dort. Meine Eltern sind uns vor einem Jahr nach Frankfurt gefolgt. Nur meine Schwiegermutter und eine Schwägerin leben etwa eineinhalb Stunden entfernt von der Stadt. Es ist sehr gefährlich dort, denn man weiß nicht, was am nächsten Tag passiert, ob wieder eine Bombe fällt, ob es Medikamente und Lebensmittel gibt. Im Sommer ist es noch erträglich, aber der nächste Winter kommt, und dann kann es passieren, dass die Menschen wieder im Dunkeln sitzen.
Mein Vater hatte vor vielen Jahren außerhalb der Stadt ein Sommerhaus für die Familie gebaut. Er machte sich viele Gedanken und fertigte für unsere Kinder eine Sandkiste und ein Klettergerüst an. Dort trafen wir uns jeden Sommer, um in dem Haus die Ferien zu verbringen. Für meinen Vater war es ein Traum. Nun wissen wir nicht, was mit dem Sommerhaus passiert ist, ob es überhaupt noch steht.
Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Nach der Schule wusste ich recht bald, dass ich etwas mit Menschen machen möchte. Das war mir sympathischer, als Papiere zu wälzen. Deshalb studierte ich Soziologie und Soziale Wissenschaften. An der Universität lernte ich meinen Mann kennen, wo er als Dozent in der Politikwissenschaft und in der Soziologie gearbeitet hat. Ich mag es, dass wir uns mit denselben Themen beschäftigen und darüber diskutieren können. Heute ist er Lehrer einer Integrationsklasse an einer Realschule.
kinder Als mein drittes Kind, unser heute zweijähriger Sohn, auf die Welt kam, dachte ich, dass ich nun das Leben besonders genießen werde. Ich wollte seine Entwicklung genau verfolgen, mich über seine ersten Schritte, ersten Worte freuen. Bei meiner Tochter hatte ich das Gefühl, das verpasst zu haben, weil wir da mit der neuen Lebenssituation doch eher im Stress waren.
Aber auch bei ihm kam es anders. Als er zehn Monate alt war, fing ich an, das Willkommenszentrum der Gemeinde zu leiten. Mein Mann und ich sind beide voll berufstätig, und ich habe neben der Arbeit, meiner Familie und dem Haushalt nur wenig Zeit für mich. Deshalb genieße ich es immer sehr, wenn wir mit dem Willkommenszentrum beziehungsweise Familienzentrum Ausflüge unternehmen oder Museen besuchen.
Für meinen Vater war es schwerer als für meine Mutter, sich hier gut einzuleben. Er ist 62 Jahre alt und hat immer gearbeitet. Auf einmal fühlte er sich etwas nutzlos. Meine Mutter hat mir immer mit den Kindern geholfen, weshalb es für sie leichter ist. Mittlerweile engagiert sich mein Vater ehrenamtlich beim Fußball einer ukrainischen Mannschaft. Worüber ich mich sehr freue, ist, dass meine Eltern bei uns im Haus wohnen.
Es war so ein Glück, dass die Wohnung unter unserer frei wurde und wir sie mieten konnten.
Es war so ein Glück, dass die Wohnung unter unserer frei wurde und wir sie mieten konnten. Und das in Frankfurt. Unser mittlerweile 13-jähriger Sohn ist zu ihnen gezogen, kommt aber immer zu den Mahlzeiten zu uns hoch. Er braucht etwas mehr Ruhe, als es mit seinen zwei kleineren Geschwistern möglich ist. In diesen Sommermonaten treffen wir uns oft im Garten. Und natürlich an den Feiertagen.
HERAUSFORDERUNGEN Meine Tochter geht noch zur Kita, mein jüngster Sohn ist bei einer Tagesmutter untergebracht, die die kleine Gruppe im selben Haus betreut, in dem nun die Räume des Familienzentrums sind. Wenn etwas ist, kann ich sofort bei ihm sein. Und wenn sein Tag dort vorbei ist, bleibt er bei mir, bis ich Feierabend habe. Es ist eine Herausforderung für zwei voll berufstätige Eltern, immer alles zeitlich hinzubekommen.
Wenn ich doch einmal freie Zeit und Muße habe, dann sticke ich gern Perlenbilder. Manchmal nehme ich Kindergesichter, manchmal Blumen als Motive. Ich reise auch sehr gern.
Ich kann nicht sagen, dass ich Heimweh habe. Nach fünf Jahren empfinde ich Deutschland als meine Heimat. Ich fühle mich mehr den Menschen als den Plätzen verbunden. Und die Ukraine wird nie mehr so sein, wie sie war. In diesem Moment möchte ich das Leben genießen.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt