Unmittelbar nach der ersten Folge von Schofartönen an Rosch Haschana verkünden wir »Aschrej ha’Am jode’ej Terua« – »Glücklich ist das Volk, das den Posaunenklang kennt« (Psalm 89:16).
Obwohl in der Liturgie mit dem Posaunenklang dieses Verses ganz besonders die Schofartöne gemeint sind, erweckt der Vers in mir ein poetisches Gefühl – einen Gesang, den das religiöse Leben hervorruft. Über diesen Vers dachten unsere Weisen nach und stellten im Midrasch die Frage: »Wissen andere Völker etwa nicht, wie man musiziert?« Es gibt so viele schöne Instrumente auf der Welt. Es gibt doch kein Volk, das keine Musik kennt. Wie sollen wir den Psalm also verstehen?
Die Frage des Midrasch können wir auch anders formulieren: Gibt es denn nicht so viele zahlreiche und schöne Instrumente, die das Schofar in einer reichen Symphonie begleiten könnten? Wieso ertönt es ganz alleine?
Berufung Meine Antwort ist: Das Schofar ertönt nicht allein. Es wird von der schönsten Musik begleitet, die kein Instrument hervorbringen kann. Nicht physische Klänge, sondern die der jüdischen Herzen und Gefühle schließen sich dem schrillen Schofarton an und machen aus ihm eine ewig dauernde Symphonie des Überlebens, des Schicksals und der Berufung. Eine Berufung, weil Jüdischsein nicht nur ein erblicher Zustand ist, sondern eine Berufung, zu der G’tt uns herausforderte (Exodus 19:6): »Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein.«
Die Klänge des erfüllten religiösen Lebens gehören zu den Schönsten, die es gibt. Vor Kurzem wurde ich zum Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München gewählt und darf deshalb dieses Jahr hier in meiner neuen Heimat zur Musik des Schofars die Töne der jüdischen Gefühle, der Wehmut und der Leidenschaft hören, wie sie zwischen den Zeilen ertönen, wenn wir zusammen die Gebete sprechen und singen und jeder diese Klänge und Worte mit seinen eigenen Bedürfnissen und Erfahrungen erfüllt.
Zu diesem besonderen Ereignis hoffe ich, sie alle kennenzulernen, damit dieser Gesang während des ganzen Jahres in unseren Ohren weiter klingt.
Wie auch eine Stradivari klingt die Melodie des jüdischen Geistes umso schöner, wenn die Instrumente regelmäßig gestimmt werden. Schana Towa, ein gutes, jüdisches, engagiertes Jahr.