Mit Armin Nassehi und Michel Friedman hieß Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, am Dienstag vergangener Woche »zwei – im besten Sinne des Wortes – streitbare Stimmen, so provokant wie produktiv, bei uns willkommen«.
Friedman, Jurist, Publizist und Philosoph und vielseitig politisch engagiert, hat 2021 im Duden Verlag ein kleines, aber nachdenklich machendes Buch veröffentlicht: Streiten? Unbedingt! Ein persönliches Plädoyer. Nassehi, Professor und Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), hat im selben Jahr sein jüngstes Buch Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft bei C.H. Beck herausgebracht.
provokation Beide Themen fordern heraus, provozieren Stellungnahmen. Charlotte Knobloch zitierte in ihrer Begrüßungsrede Friedman: Dass der Streit »in Deutschland bis in die Gegenwart negativ besetzt ist, ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass das Schweigegebot, das nach 1945 die Diskursräume in Deutschland verstopfen sollte, noch viel zu wirksam ist«. Das, so Knobloch weiter, könne man auch als Ausdruck jenes »Unbehagens« deuten, von dem im jüngsten Buch des zweiten Gastes des Abends, Armin Nassehi, die Rede ist.
»Für den Laien«, so Knobloch weiter, »der sich in diesem Theorie-Gebäude nicht verirren will, wirft all das vor allem eine zentrale Frage auf: Wie kann man sich eigentlich in einer offenen Gesellschaft streiten, ohne sich zu zerstreiten?«
So stellte die Leiterin des Kulturzentrums der IKG, Ellen Presser, als Moderatorin den beiden Disputanten auf der Bühne des Hubert-Burda-Saals gleich zu Beginn die grundlegende Frage, ob zwischen ihnen als Freunden ein Diskurs entwickelt werden könne, gar ein Streitgespräch.
»Wer den Widerspruch nicht erträgt, unterdrückt die Meinungsfreiheit.«
Michel Friedman
Friedmans Antwort war knapp und klar: »Dass man befreundet ist, ist kein Hindernis, zu streiten.« Ganz wichtig sei es, zuzuhören, neugierig zu sein auf den anderen und dessen Meinung. »Das Streiten ist ein Prozess. Die Inhalte entstehen durch das Gespräch. Das muss nicht unbedingt ein Ergebnis haben.«
Diese prozessuale Entwicklung der Gedanken und deren Klarstellung durch die jeweiligen Streitpartner seien grundlegende Elemente der modernen Demokratie. »Zur Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft gehört konstitutiv der Widerspruch, der zu einem erneuten Widerspruch und zu einem weiteren Widerspruch führt«, so Friedman. »Wer den Widerspruch nicht erträgt, unterdrückt die Meinungsfreiheit.«
populisten Als Beispiel dafür führte er Populisten an, sie hielten Widerspruch nicht aus: »Sie sind diejenigen, die die Meinungsfreiheit nur so lange verteidigen, solange sie in ihre Richtung geht.« Streit sei aber nur auf dem Boden der Tatsachen möglich.
Wichtig sei die Anerkennung des jeweiligen Gesprächspartners. Wenn dieser sein Gegenüber nicht grundsätzlich anerkenne, lasse sich kein Dialog führen. Das Streiten sei aber wichtig. Das lerne man zu Hause, bei den nächsten Autoritäten. Es gehe beim Streiten, so wie Friedman dieses versteht, nicht darum, recht zu haben, oder darum, wer das letzte Wort hat.
Auch wenn man sich in der Sache nicht einig sei, dürfe man nicht emotional dafür bestraft werden. Dabei spielten Emotionen durchaus eine Rolle. Doch die »rote Linie« von Hass und Ausgrenzung, kurz: der Verletzung der Menschenrechte, dürfe dabei nicht überschritten werden.
motivationen Anders als beispielsweise in Frankreich habe man sich nach 1945 mit einer Streitkultur lange schwergetan. Denn da zum Streiten das Zuhören gehöre, das Wissen um die Motivationen des Gegenübers, verhindere das Ausblenden der eigenen Geschichte jegliches Gespräch. Deutschland sei lange Zeit kein Streitland gewesen, sondern ein Schweigeland.
»Streit sorgt dafür, etwas in Bewegung zu bringen. Zuhören sorgt dafür, etwas in Bewegung zu bringen«, davon ist Michel Friedman überzeugt. Wenn Menschen auf einander neugierig seien, wenn sie sich mit Empathie begegneten, könne dies gelingen. Deshalb sei Streiten so wichtig.
Für die Münchner Volkshochschule als Mitveranstalterin des Abends hatte deren Programmdirektorin Susanne May das Schlusswort. Sie zitierte Andreas Voßkuhle, den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, mit dessen Aussage: »Die Demokratie des Grundgesetzes ist keine Kuscheldemokratie. Sie lebt von der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, zu der auch eine kraftvolle Rhetorik und prägnante Zuspitzung gehören.«
Michel Friedman habe an diesem Abend gezeigt, »dass der zivilisierte Streit das Lebenselixier der Demokratie ist, dass die Aushandlung von politischen Meinungsunterschieden und Interessenskonflikten wesentlich zum demokratischen Prinzip gehört«, sagte May. Gerade in der Demokratie gebe es kein unstrittiges Gemeinwohl, das nur definiert und in einen Aktionsplan umgesetzt werden müsse. »Was dieses Gemeinwohl sein kann, lässt sich allein in der streitbaren Auseinandersetzung ermitteln«, fasste Susanne May zusammen.