Das Trinkglas des Poliers zerbricht auf dem Pflaster vor der künftigen Synagoge. Es ist Richtfest in der Hamelner Bürenstraße. Die Liberale Jüdische Gemeinde Hameln hat ihr Gemeindezentrum auf dem Grund und Boden gebaut, auf dem bis zum 9. November 1938 die alte Synagoge stand. Rachel Dohme, die Gemeindevorsitzende, ist zufrieden: »Wir sind dort, wo wir hingehören.«
Sie steht vor einem zweistöckigen ovalen Gebäude, das rot verklinkert und mit einem Flachdach versehen ist. Nicht sehr groß, aber moderner und geräumiger als die Unterkunft, in der die Gemeinde derzeit zur Miete an der Bahnhofstraße untergebracht ist. »Ein Grundriss wie ein Ei«, amüsiert sich die Vorsitzende. Aber das passe durchaus: »Wir sind zwar aktiv, aber wir sind immer noch eine Gemeinde im Werden.«
Anfänge Dass in Hameln wieder jüdisches Leben Fuß gefasst hat, ist vor allem ihr zu verdanken. Die Liebe hatte die Amerikanerin einst von der US-Ostküste ins Weserbergland verschlagen. Als Anfang der 90er-Jahre die ersten Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im benachbarten Hasperde ein Wohnheim bezogen, begann sie, den Kindern im Heim Religionsunterricht zu erteilen, mit den Familien Schabbat zu feiern und sie willkommen zu heißen.
Die Verständigung lief zunächst über ein paar Brocken Jiddisch, den Einsatz von Händen und Füßen und russisch-deutschen Wörterbüchern. Einfacher wurde es, als Polina Pelts mit ihrer Familie kam. Sie hatte in ihrer Jugend in Odessa Deutsch studiert und war bereit, zu lernen und zu übersetzen. Seitdem bilden die beiden Frauen ein dynamisches Gespann, das auch andere zur Mitarbeit zu motivieren vermag. 1997 gründen sie in Hameln die neue Jüdische Gemeinde. In der Hamelner Öffentlichkeit finden sie dafür breite Unterstützung. Abgeordnete, Stadtrat, Kirchen, Initiativen und einzelne Bürger halfen und helfen bis heute.
Vertrautes »Es ist nicht so, dass ich nur anderen dienen wollte«, betont Rachel Dohme. »Ich wollte auch etwas für mich tun. Ich wollte mit jüdischen Menschen zusammen sein, aber die gab es zuvor in dieser Gegend nicht. Aufgewachsen im liberalen »Conservative Movement« der USA, war die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Kultus und Kultur für sie selbstverständlich. Die neue Gemeinde bot die Möglichkeit, in diesem Sinne ans Werk zu gehen. Im April 1997 schließt sie sich dem eben gegründeten nationalen Verband der liberalen Gemeinden an, der Union progressiver Juden.
Noch bevor die niedersächsische Landesregierung ihnen Mittel aus dem Staatsvertrag zur Verfügung stellt, schickt die World Union for Progressive Judaism gelegentlich Rabbiner und Kantoren. Später senden die liberalen Rabbinerseminare in London und Potsdam Rabbinerstudenten zum Praktikum. Seit 2003 kommt jeden Monat Rabbinerin Irit Shillor für einige Tage aus England an die Weser, hält Gottesdienste, gibt Schiurim, unterrichtet Bar- und Batmizwa-Kandidaten und unterweist die Giur-Anwärter. Aber auch ohne sie oder die Unterstützung eines Rabbinerstudenten feiert die Gemeinde jeden Freitagabend den Beginn des Schabbat und lädt am Samstagmorgen zu Schacharit und Torastudium ein.
Im jüngsten Monatsprogramm finden sich darüber hinaus Sprachkurse, Termine für Kinder und Jugendliche, ein Seniorencafé, Tanzworkshops, ein Chor, ein Einführungskurs ins Judentum auf Russisch, ein Bücherkreis und die Öffnungszeiten für die gemeindeeigene Bibliothek.
Was wird sich ändern, wenn im Februar die neue Synagoge eröffnet wird? Alles geht normal weiter, ist Rachel Dohme überzeugt. Der Name, den die 200 Mitglieder der Gemeinde ihrer Synagoge gegeben haben, fasst am besten zusammen, was die meisten dabei empfinden: »Beteinu« – Unser Haus!