Als ich mit der Frau nach Berlin kam, die ich in Kalifornien kennengelernt hatte, eröffneten wir im Jahr 2001 unser erstes Yoga-Studio am Hackeschen Markt in Berlin. Zufällig befindet sich nur wenige Hundert Meter Luftlinie entfernt der Ort, von dem ihre Familie vor dem Krieg vertrieben wurde. Kurz nach unserer Ankunft baute ich in Berlin das Comedy-Improvisationstheater »Comedy Shortz« auf. Doch alles fing in Madison, Wisconsin, an, wo ich Mitte der 60er-Jahre geboren wurde.
Meine Eltern waren osteuropäische Juden, deren Eltern nach Amerika emigriert waren, wie so viele zur damaligen Zeit. Mein Großvater mütterlicherseits hatte in Russland als fahrender Hebräischlehrer gearbeitet, der eigentlich mit seiner Familie in den 20er-Jahren nach Israel auswandern wollte. Es verschlug die Familie dann aber in die USA, wo mein Großvater Torarollen restaurierte, indem er die Schrift per Hand mit der Feder nachmalte, unvorstellbar heute. Hatte er sich einmal verschrieben, musste er die ganze Seite von vorn beginnen.
In der Synagoge hatte er einen speziellen Sitzplatz, sodass er zur Not bei der Toralesung einspringen konnte. Er kannte schließlich alle Texte auswendig. Als Kind dachte ich, alle Großväter würden so etwas machen.
Für ihn war die »jüdische Schuld« stets ein schweres Schicksal: Warum hatten er und seine Familie überlebt, während so viele andere ermordet wurden? Ich erinnere mich, wie er in der Küche saß und von Kopfschmerzen geplagt wurde. Auf meine Frage, was ihm fehle, antwortete er nur: »Ich erinnere mich.«
Nach dem Freitod meines Vaters änderte sich mein Leben dramatisch.
Die Eltern meines Vaters züchteten Pilze in der Nähe von Danzig. Kurz nach der Geburt meines Vaters flohen sie 1921 über den Atlantik und bauten sich dort ein neues Leben auf. Der Rest der Familie blieb in Polen und überlebte den Holocaust nicht. In den USA eröffnete die Familie ein Lebensmittelgeschäft, um sich selbst versorgen zu können. Auch wenn mein Großvater ein geschätztes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Madison war und auch zeitweise ihren Vorsitz innehatte, litt er zeitlebens an Depressionen. Ich kannte ihn nicht als glücklichen Menschen.
Um sich zu assimilieren, änderte er seinen Nachnamen. Da für ihn Kapellenberg einen zu jüdischen Eindruck machte, ließ er den »Berg« am Ende streichen, sodass wir seitdem nur noch »Kapell« heißen. So war das damals in den 50er-Jahren, in der McCarthy-Ära, unter dem Eindruck der Kommunistenverfolgungen. Später fand ich heraus, dass es in der Nähe von Stuttgart einen Ort namens Kapellenberg gibt. Vermutlich hat unsere Familie also auch Wurzeln in Deutschland.
IMPROVISATION Nach der Highschool änderte sich mein Leben dramatisch, als mein Vater seinem Leben ein Ende setzte. Dies war ein schwerer Schicksalsschlag für mich und meine beiden Geschwister. Durch eine Begegnung kurze Zeit später nahm mein Leben eine neue Richtung. Ich lernte jemanden von einer Comedy-Theatergruppe kennen, die mit Improvisationsshows durchs Land zog. Ich war fasziniert. Für mich stand fest: Entweder werde ich depressiv wie mein Vater oder genau das Gegenteil. Ich verschrieb mich also der Comedy, was mich seitdem nicht mehr loslässt. Der Tod meines Vaters eröffnete mir die Möglichkeit, auszubrechen, die Stadt zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen.
Mein Großvater restaurierte in den USA Torarollen.
Ich begann, am College zu studieren, und absolvierte zwei verschiedene Bachelorstudiengänge, einen in Theater und einen in Communicative Disorders, der Arbeit mit Menschen, die an kommunikativen Störungen leiden. Diese Richtung faszinierte mich, da die Großeltern eines Freundes taubstumm waren und nur über Zeichensprache kommunizierten. Diese Sprache erlernte ich später auch. Für mich sind Theaterspielen und Zeichensprache Kommunikationsformen, bei denen es darum geht, das Gegenüber zu erreichen und ihm etwas zu vermitteln.
Während meines Studiums war ich Teil einer Theatergruppe und konnte nicht genug davon bekommen, auf der Bühne zu stehen und das Publikum zu begeistern. Das erste Mal auf einer Bühne stand ich 1985, das weiß ich noch genau. Es war wie ein Rausch für mich. Improvisationstheater zu spielen, übt einen besonderen Reiz auf mich aus, weil es unglaubliche Konzentration und Wachheit im Kopf erfordert und Kreativität freisetzt.
Damals gab es bereits verschiedene Comedy-Impro-Gruppen in zahlreichen Städten des mittleren Westens. Deren Programm bestand aus verschiedenen wiederkehrenden Elementen, die jeweils von den Schauspielern in jeder Show adaptiert wurden. Wir führten Elemente des Wettbewerbs ein: Zwei Gruppen treten gegeneinander an, und der Applaus des Publikums kürt am Ende den Sieger. Durch diesen Wettbewerbsgedanken bekamen die Shows noch viel mehr Dynamik und Energie.
YOGA Wir eröffneten dann unseren eigenen Klub, tourten durch die Städte und spielten pro Wochenende drei bis vier verschiedene Shows. Wir liebten dieses Leben.
Ein paar Jahre ging das so, bis 1991 meine Mutter und kurze Zeit später mein Großvater starb. Nun hielt mich nichts mehr in Madison, und ich ging nach Rochester, New York, und arbeitete dort am »National Institute for the Deaf«, einer Einrichtung für Gehörlose. Dort entwickelte ich Theaterstücke für gehörlose und sprechende Schauspieler.
Es zog mich mit dieser und anderen Theatergruppen durch das ganze Land, über Ohio, Colorado, bis nach San Francisco und Los Angeles. Hier machte ich meinen Master in Theatermanagement, weil mir klar wurde, dass ich so einen noch größeren Einfluss ausüben konnte als auf der Bühne.
Am »National Institute for the Deaf« entwickelte ich Theaterstücke für gehörlose und sprechende Schauspieler.
In Los Angeles lernte ich dann auch Patricia Thielemann kennen. Sie war Schauspielerin, kam aus Hamburg und wollte sich in Kalifornien etablieren. Nachdem wir uns in dieser riesigen Stadt dreimal zufällig bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen hatten, war klar, dass wir zusammengehören. Nachdem sie mir Europa gezeigt und ich das erste Mal Berlin gesehen hatte, wussten wir, dass wir hierbleiben wollten.
Diese Stadt war für mich immer die Höhle des Löwen, hier war das Zentrum der Katastrophe, und das wollte ich kennenlernen. Das Leben in den USA war für mich langweilig geworden – ich wollte etwas Neues ausprobieren. Patricia hatte bereits in Kalifornien als Yogalehrerin gearbeitet und wollte nun in Berlin eine neue Form von Yoga etablieren. Das funktionierte sehr gut, und wir eröffneten zwei weitere, sehr erfolgreiche Yoga-Studios in der Hauptstadt. Für mich ist Yoga ein Element, um das Leid der Welt heilen zu können, zumindest ist es meine Hoffnung, dadurch ein Stück dazu beitragen zu können.
Patricia kommt ebenfalls aus einer jüdischen Familie. Nachdem ihre Großmutter noch vor dem Krieg weggebracht wurde, wuchs ihre Mutter in einem Waisenhaus auf und wurde lutherisch erzogen, sodass der jüdische Einfluss in dieser Familie nicht so stark ausgeprägt war.
Die Comedy Shortz gründete ich im Jahr 2005. Mit der Bühnensprache Englisch erreichen wir ein großes Publikum – besonders unter allen Zugezogenen dieser Stadt. Wir spielen jedes Wochenende in Neukölln und manchmal im Wedding. Die Schauspieler kommen aus Großbritannien, Kanada, den USA, Portugal und Deutschland.
FAMILIE Patricia und ich bekamen zwei Kinder, die mittlerweile zehn und 13 Jahre alt sind. Leider hielt unsere Ehe nicht auf Dauer, und wir ließen uns scheiden – für mich eine sehr schwere Zeit. Mittlerweile verstehen wir uns zum Glück wieder ganz gut. Die Erziehung unserer Kinder teilen wir uns. Das funktioniert gut, da wir beide nah beieinander in Berlin wohnen.
Ich bin nicht so eng in die jüdische Gemeinde in Berlin integriert, aber ich versuche, meinen Kindern dennoch viel mit auf den Weg zu geben. Hierbei orientiere ich mich an meinem Großvater. Der sagte immer, man solle versuchen, die Welt als einen besseren Ort zu hinterlassen, als man sie vorgefunden hat.
Für mich ist Yoga ein Element, um das Leid der Welt heilen zu können.
Neben meiner Arbeit bei Comedy Shortz arbeite ich an der Berlin International School unter anderem als Regisseur für Musicals. Zuletzt haben wir Shrek, die Trickfilm-Geschichte des grünen Ogers, inszeniert und auf die Bühne gebracht. Diese Arbeit mit Kindern erfüllt mich sehr und hat mir auch nach der schweren Zeit der Scheidung geholfen, wieder auf die Beine zu kommen.
Im Moment lebe ich in einer viel zu großen Wohnung in einer Art Wohngemeinschaft, zusammen mit meinem besten Freund Adam. Ich habe das Gefühl, mittlerweile wieder mit viel Energie in den Tag starten zu können.
Als Nächstes will ich eine Qualifikation als Lehrer erwerben, um noch mehr unterrichten zu können. Vor allem aber will ich meine Deutschkenntnisse verbessern. Es ist viel zu einfach, in Berlin mit Englisch über die Runden zu kommen, gerade, wenn man an einer internationalen Schule und einem englischsprachigen Theater beschäftigt ist – daran muss ich dringend arbeiten.
Bis meine Kinder erwachsen sind, will ich auf jeden Fall in Berlin bleiben, danach: mal sehen. Auf jeden Fall möchte ich noch viel mehr von Europa kennenlernen.
Aufgezeichnet von Urs Kind