Sachsen

»Deine Freundin Anne Frank«

Ein kurzes Comeback feierte das ehemalige Bekleidungshaus Totschek im sächsischen Görlitz für die Filmaufnahmen zu Es war einmal in Deutschland, ein deutsches Filmdrama von Sam Garbarski aus dem Jahr 2017. Damals, vor vier Jahren, waren die Schaufenster dekoriert, die Innenräume mit Leben gefüllt, und viele Passanten blieben stehen und schauten sich den Dreh zu der Romanverfilmung um sechs Schoa-Überlebende und ihren Neustart im Nachkriegsdeutschland an.

In diesen Tagen wird noch einmal ganz anders an die Geschichte des Bekleidungshauses und seiner ehemaligen Besitzer erinnert, denn am 5. November wurden für Walter Totschek, seine Frau Bianca und seine beiden Töchter Gerti und Ursula Stolpersteine verlegt. Insgesamt übergab der Künstler Gunter Demnig 15 Steine der Öffentlichkeit, drei davon auf der polnischen Seite der Doppelstadt für Eva Goldberg und ihre Eltern – der Vater hatte für das Kaufhaus Totschek gearbeitet.

STOLPERSTEINE-GUIDE Hauptorganisator ist das Kulturbüro Görlitz. »Uns war und ist die Verlegung und das Gedenken sehr wichtig«, sagt Daniel Breutmann. Seine Kollegin Lauren Leiderman hat die Schicksale der Görlitzer Juden recherchiert und dokumentiert jedes Leben auf dem Stolpersteine-Guide im Internet.

Trotz Regen kamen etwa 50 Interessierte in die Steinstraße, um der Familie Totschek zu gedenken.

Zusätzlich haben sie eine »Gedenkwoche« auf die Beine gestellt, bei der das Poesiealbum von Eva Goldberg vorgestellt wird und sich Kinder und Nachfahren der einstigen jüdischen Gemeinde von Görlitz aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg im Kulturforum Görlitzer Synagoge treffen, um sich auszutauschen. Zuvor hat Lauren Leiderman sie schon über Facebook-Gruppen zusammengebracht. Nun haben sich die Angehörigen der Verfasser von Einträgen aus Evas Poesiealbum aus aller Welt getroffen.

Trotz Regen kamen am vergangenen Freitag etwa 50 Interessierte in die Steinstraße, um der Familie Totschek zu gedenken, unter ihnen auch Tamara Meyer, die Tochter von Ursula, die extra aus Washington angereist war, um bei der Verlegung dabei zu sein und noch einmal das Kaufhaus zu besichtigen, die geschwungene Treppe zu bestaunen. Derzeit wird es hinter der Fensterfassade zu Büroräumen umgebaut.

SCHWESTERSTADT Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu (CDU), der bei der Übergabe im deutschen Teil der Stadt dabei war, sagte auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen: »Die Stolpersteine erinnern uns an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Die Orte, an denen wir seit 2007 die Stolpersteine in unserer Stadt legen, machen uns deutlich, dass diese Tragödie nicht irgendwo stattfand, sondern auch inmitten unserer Stadt.«

Er sei Gunter Demnig sowie den engagierten Görlitzer Bürgern dankbar, dass weitere Stolpersteine in Görlitz und erstmalig in der Schwesterstadt Zgorzelec verlegt werden.« Dort begleitete auch der Bürgermeister der polnischen Seite, Rafal Gronicz, die Zeremonie.

Natürlich kenne Tamara Meyer das Kaufhaus aus den Erzählungen ihrer Mutter Ursula und ihrer Tante Gerti, aber auch, weil sie bereits öfters in Görlitz war. »Es war in unserer Familie immer präsent.« Sie hatte die beiden Schwestern auch einmal nach Deutschland begleitet, die über den ruinösen Zustand des Hauses so entsetzt waren, dass sie es verkaufen wollten. »Es war nicht mehr ihres.«

In Eva Goldbergs Poesiealbum hat sich ein weltberühmtes Mädchen verewigt.

Das Geschäft für »Herren-, Damen-, Mädchen- und Knabenkleidung« gehörte bis 1938 der Familie Totschek. Alfons Totschek hatte es bereits 1868 gegründet. Als 1936 Ursula von der Schule verletzt nach Hause kam, da sie von Mitschülern beschimpft und mit Steinen beworfen worden war, zog die Familie aus Angst um ihr Kind nach Berlin. Nach der Pogromnacht vom November 1938 verkaufte Walter Totschek das Geschäft an einen Mitarbeiter.

Ursula Totschek konnte mit einem Kindertransport nach England emigrieren, während die Familie sich um eine Ausreise in die USA bemühte, was erst in letzter Sekunde gelang. Nach der Schoa setzte die Familie alles daran, ihre Immobilie wiederzubekommen, da sie sie damals nicht freiwillig veräußert habe. Nach einer längeren Auseinandersetzung bekam sie das Haus rückübertragen und verkaufte es später. Der jetzige Besitzer hat es an eine Consulting Firma vermietet.

FLUCHTWEG Auch der Vater von Eva Goldberg kannte das Kaufhaus bestens, da er damals dort angestellt war. Nun wird das Poesiealbum seiner Tochter bekannt – fast 80 Jahre, nachdem es verfasst worden war. Zum einen dokumentiert es ihren Fluchtweg, zum anderen hat sich das wahrscheinlich berühmteste Mädchen der Welt darin verewigt: Anne Frank.

»Eva hatte in den Sommerferien öfters mit ihrer Familie Ferien in Amsterdam gemacht«, erzählt Lauren Leiderman. »Da haben ihre Tanten ihr gesagt, dass sie mal rüber gehen soll, da wohne ein nettes gleichaltriges Mädchen.« Deshalb sind die letzten drei Stolpersteine, die am vergangenen Freitag verlegt wurden, der Familie Goldberg gewidmet. Max Goldberg arbeitete als Lieferant für das Kaufhaus, während seine Frau Helene Schneiderin war. Die Familie lebte in einem Mietshaus auf der heutigen polnischen Seite – wo an diesem Freitag erstmalig Stolpersteine verlegt wurden.

Lauren Leiderman fand auch Informationen über weitere Juden in Görlitz, an die nun Stolpersteine erinnern.

1939 verließ die Familie Goldberg Görlitz, um über Amsterdam und England in die USA zu gelangen, sagt Leiderman. Die Amerikanerin hat den Lockdown genutzt, um jüdische Schicksale aus Görlitz zu recherchieren. Da ihr Ehemann Jude ist, wollte sie sich mit der Geschichte ihrer neuen Heimat auseinandersetzen. So schrieb sie etliche Museen und Archive an, immer auf der Suche nach früheren Görlitzern. Sie durchforstete im Internet unzählige Kataloge. »Schwierig war es, weil es viele unterschiedliche Schreibweisen von Görlitz gibt.«

POESIEALBUM Doch dann stieß sie im Holocaust-Museum in Washington auf Evas Poesiealbum. Sie fand ein kleines Foto auf einer vergilbten Seite des Albums, aber das Mädchen ist unverkennbar – und weltberühmt. Ihr Spruch für die damals zehnjährige Eva Goldberg aus Görlitz im Januar 1939 lautet: »Mit vielen teile deine Freuden, mit allen Munterkeit und Scherz, mit wenigen nur deine Leiden, mit Auserwählten nur dein Herz. Zur Erinnerung an deine Freundin Anne Frank.«

Mithilfe des Poesiealbums hat Leiderman die Flucht der Familie Goldberg über die Niederlande in die USA nachverfolgt. »Wir begleiten sie dabei«, so Lauren, die sich sehr darüber freut, dass das Album in diesen Tagen auf Deutsch, Englisch und Polnisch im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist.

Lauren Leiderman fand auch Informationen über weitere Juden in Görlitz, an die nun Stolpersteine erinnern. Ebenso hat sie die Biografien aufgeschrieben, die in dem Internet-Guide unter Görlitz nachzulesen sind. Es war diesmal die vierte Verlegung von Stolpersteinen in Görlitz. Mittlerweile wird damit in der sächsischen Stadt an 36 Menschen und ihr Schicksal erinnert.

Berlin

Wenn Hass real wird

Die Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss sozialer Medien

von Alicia Rust  23.12.2024

Interview

»Wir sind neugierig aufeinander«

Amnon Seelig über die erste Konferenz des Kantorenverbandes, Lampenfieber und das Projekt Call a Kantor

von Christine Schmitt  22.12.2024

Porträt der Woche

Ein Signal senden

David Cohen ist Geschäftsführer eines Unternehmens und setzt sich gegen Judenhass ein

von Matthias Messmer  22.12.2024

Soziale Medien

In 280 Zeichen

Warum sind Rabbinerinnen und Rabbiner auf X, Instagram oder Facebook – und warum nicht? Wir haben einige gefragt

von Katrin Richter  20.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert

Debatte

Darmstadt: Jetzt meldet sich der Pfarrer der Michaelsgemeinde zu Wort - und spricht Klartext

Evangelische Gemeinde erwägt Anzeige wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024

Hessen

Nach Judenhass-Eklat auf »Anti-Kolonialen Friedens-Weihnachtsmarkt«: Landeskirche untersagt Pfarrer Amtsausübung

Nach dem Eklat um israelfeindliche Symbole auf einem Weihnachtsmarkt einer evangelischen Kirchengemeinde in Darmstadt greift die Landeskirche nun auch zu dienstrechtlichen Maßnahmen

 19.12.2024

Ehrung

Verdiente Würdigung

Auf der Veranstaltung »Drei Tage für uns« wurde der Rechtsanwalt Christoph Rückel ausgezeichnet

von Luis Gruhler  19.12.2024

Chabad

Einweihung des größten Chanukka-Leuchters Europas in Berlin

Der Leuchter wird auf dem Pariser Platz in Berlin-Mitte vor dem Brandenburger Tor aufgebaut

 18.12.2024