Mein Kleiderschrank ist gut gefüllt mit Trikots, Sweatshirts und Schals in Blau und Weiß – denn ich bin Hertha-Fan. Zig Aufkleber habe ich in meiner Jugend auf die Schranktüren meines Kinderzimmers geklebt, dort sind sie noch heute. Meine erste Hertha-Dauerkarte bekam ich zu meiner Barmizwa, die ich in der Synagoge Pestalozzistraße hatte. Seitdem bin ich mit dieser Fußball-Mannschaft durch Höhen und Tiefen gegangen. Aber schon vorher war ich öfters im Stadion und habe die Torjäger kräftig angefeuert.
An jedem Heimspiel bin ich in der Ostkurve zu finden, öfter fahre ich auch mit zu den Auswärtspartien. Als ich jünger war, bin ich mit meinem Vater zu den Spielen gegangen, der als Engländer eigentlich West Ham United Fan ist. Dann wurde ich größer und ging mit Freunden zum Spiel. Ich weiß gar nicht so richtig, wie ich Hertha-Fan wurde, wahrscheinlich ist es doch mehr eine emotionale Bindung an den Verein, als dass das fußballerische Können ausschlaggebend war. Wenn sie gewinnen, freue ich mich natürlich, bei einer Niederlage ärgere ich mich. Wenn das Spiel spannend ist, Hertha ein Tor schießt, dann liegen wir uns in der Ostkurve in den Armen, auch wenn wir uns gar nicht kennen.
Leider sind diese Momente eher selten geworden, und es bleibt abzuwarten, ob Hertha noch eine Chance auf den Klassenerhalt hat. Die zweite Liga wäre etwas ganz anderes, denn da kommen nicht mehr so viele Zuschauer ins Stadion. Die Ostkurve wird natürlich voll sein, aber es schallt dann ganz schön, wenn wir unsere Anfeuerungsgesänge einstimmen. Auch das hat seinen Charme. Ehrlich gesagt, hätte ich auch nichts dagegen, wenn Hertha noch einmal in der vierten Liga anfangen und sich nach oben spielen müsste, wenn wir im Gegenzug keinen Investor haben, der sich ständig in die Angelegenheiten des Vereins einmischt.
Als kleiner Junge kickte ich noch selbst das Leder. Erst für Makkabi, dann für den FV Wannsee und schließlich beim 1. FC Wilmersdorf. Angefangen hatte ich im Sturm, aber da ich technisch nicht so begabt war, spielte ich immer mehr im defensiven Mittelfeld. Damals zeigte ich gute Lungen und konnte viel laufen. Was mir nicht gefiel, war und ist der Druck, der auf die Kinder ausgeübt wird. Mit 14 Jahren hängte ich meine Fußballkarriere an den Nagel. Heute halte ich mich fit, indem ich zweimal in der Woche in ein Fitnessstudio gehe. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfällt, Übungen zu Hause zu machen, da kann ich mich nicht so gut disziplinieren. Ein Fitnessstudio mit festen Terminen hilft mir da sehr.
Natürlich werde ich mir die Jewro anschauen. Ich hoffe, dass Berlin den Pokal zurückholt.
Sonntags hatte ich immer eine Verabredung mit dem Jugendzentrum Olam. Dort bin ich groß geworden. Alles hat mir dort Spaß gebracht. Natürlich bin ich auch auf Machane nach Bad Sobernheim gefahren und hatte richtig heftiges Heimweh – aber nur einmal, danach nie wieder. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war und ist toll. Als ich älter wurde, wurde ich Madrich bei Olam und später auch bei der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST). Heute leite ich die Machanot als Rosch selbst. Teilweise mit meinen ehemaligen Chanichim als Madrichim. Das macht mich unfassbar stolz. Und natürlich stand ich auch bei der Jewrovision als Tänzer auf der Bühne. Aber zu meiner Zeit hatte Olam leider nicht gewonnen. Dennoch war jede Jewrovision für mich ein Highlight – auch, um alte Freunde aus ganz Deutschland wiederzusehen.
Meine Mutter ist Musikerin und hatte sich gewünscht, dass ich auch ein Instrument erlerne. Ganz konkret das Klavier. Am Ende war das nichts für mich. Ich tanzte lieber, und mit 13 Jahren machte ich Breakdance, aber das ging mir so auf die Knochen, dass es für mich keine Zukunft hatte. So kann ich sagen, dass das Musikalischste, was ich gemacht habe, die Schlachtgesänge im Stadion waren und sind. Die jüdische Community bedeutet mir viel, und bereits als Jugendlicher spürte ich, dass ich mich auf der staatlichen Schule, die ich besuchte, aus verschiedenen Gründen nicht wohlfühlte. Antisemitismus war jedoch zum Glück kein Problem. Ich war froh, dass ich ab der zehnten Klasse zur Jüdischen Oberschule gehen konnte. In der Großen Hamburger Straße machte ich auch mein Abitur und fand auf die Frage, was ich beruflich machen möchte, nur vier Wörter: Ich weiß es nicht.
SÜDAFRIKA So beschloss ich, ein Auslandsjahr einzulegen und zu reisen – ich fuhr nach Israel und machte dort Ulpan, dann ging ich mit der UpJ-Organisation Netzer nach Südafrika. Dort wurde ich in der Kinderbetreuung eingesetzt, konnte aber auch das Land etwas kennenlernen, was natürlich aufregend war. Die Landschaft fand ich wunderschön. Mit 18 Jahren hatte ich noch keine Ahnung von der Welt, und nachträglich würde ich sagen, dass ich zum Teil auch naiv gewesen war. Ich spürte in Südafrika, wie privilegiert ich als weißer Europäer war und bin. Einmal sind wir in ein ärmeres Viertel gefahren, weil Bekannte dort Musik gemacht haben und wir zuhören durften. Mittlerweile gibt es ja sogar Führungen für Touristen durch Viertel, die von Armut geprägt sind. Das finde ich falsch, weil es deren Armut in gewisser Weise auch verherrlicht.
Nach dem Auslandsjahr wusste ich immer noch nicht, was ich beruflich machen möchte. Dennoch entschied ich mich für ein Studium: ein duales BWL-Studium mit Schwerpunkt Industrie. Den Praxisteil absolvierte ich bei der BVG: Schnell wurde mir klar, dass ich kein Betriebswirt werden und lieber abbrechen wollte. Doch meinen Eltern war es zu Recht wichtig, dass ich dann eine Alternative habe – die ich nicht hatte. Also hielt ich durch und absolvierte meinen Bachelor-Abschluss. Danach dachte ich, dass Politik doch spannend ist. Mittlerweile war ich stilles SPD-Mitglied geworden. Eine Tätigkeit im Bundestag fand ich attraktiv. So kam es, dass ich Internationale Beziehungen an der Hertie School studierte. Mithilfe eines ELES-Stipendiums hatte ich schon mal ein finanzielles Fundament. Da ich auf das vorherige Studium aufbauen konnte, hatte ich bald meinen Master in der Tasche und konnte bis vor Kurzem im Büro eines Bundestagsabgeordneten arbeiten. Doch das ist nun leider vorbei, weshalb ich eine neue Tätigkeit suche.
Wahrscheinlich werde ich nun erst einmal jobben, um über die Runden zu kommen. Die Hertie School hat zwar einen sehr guten Namen, aber es gibt auch unfassbar viele Absolventen.
Bei einem ZWST-Machane sah ich meine jetzige Freundin das erste Mal. Jahre später trafen wir uns wieder, und es funkte. Nun sind wir schon seit fünf Jahren zusammen. Sie ist in Hamburg groß geworden und hielt lange Zeit dem HSV die Daumen. Das fand ich nicht so schlimm, schlimm wäre nur, wenn sie zu einem Spiel von Union Berlin gehen würde. Doch jetzt ist sie mehr für Hertha. Mittlerweile wohnen wir zusammen in Tempelhof. Sie studiert in Potsdam Rechtswissenschaften. Als Politik-Interessierter schaue ich natürlich nach Israel, beschäftige mich mit dem Krieg in der Ukraine und Problemherden wie Afghanistan sowie innenpolitischen Themen. Die Nachrichten lese ich meistens online, oft mit einem Kaffee in der Hand, denn ich liebe ihn. Auch halte ich Ausschau nach einem passenden Job für mich.
JEWROVISION Am liebsten würde ich bei Hertha und im Fußball etwas gegen Antisemitismus tun. Beim letzten Jugendkongress in Berlin moderierte ich dazu einen Workshop. Auch bin ich bei »Zusammen1« aktiv. Mit der Initiative stellen wir uns gegen Diskriminierung jeder Art. Wir zeigen Haltung und werden aktiv. Wir forschen nach den Ursachen und bieten konkrete Lösungen zur Prävention an. Das ist ein Projekt, das sich vor allem an Fußballvereine und Schulen richtet.
In diesen Tagen werde ich zwei Highlights erleben. Am Freitag werde ich natürlich die Jewrovision streamen, und ich bin sehr gespannt, wie sich die Jugendzentren präsentieren. Ich hoffe, dass meine Olamniks den Pokal zurück nach Berlin holen. Und am Samstag, na ja, Daumen hoch oder runter für Hertha.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt