Porträt der Woche

»Das zehrt an den Nerven«

»Auf keinen Fall möchte ich Hartz IV beziehen«: Hana Gross (32) Foto: Edgar Layher

Als Erstes muss ich wissen, wo oben und unten ist. Das ist die wichtigste Frage, wenn ich einen Gebetsschal nähe, einen Tallit. Deshalb beginne ich mit der Borte oben, der Atara, und markiere die Ecken. Ich mag es, selbst zu nähen und zu basteln. Etwas mit den eigenen Händen entstehen zu lassen, das gehört zu meinem Leben seit der Schulzeit an der Walddorfschule. Dort habe ich den Umgang mit der Nähnadel genauso gelernt wie mit Ton und Ofen, Hammer und Säge. Dinge selbst herzustellen, bedeutet, sie nach eigenen Wünschen zu gestalten, ihnen meine Handschrift zu geben. Kleine Unzulänglichkeiten gehören auch dazu.

nähen Oft bitten mich Freundinnen und Bekannte, für sie aus Draht und Perlen eine Kippa zu formen. Neulich wollte ein Mädchen mit mir vor ihrer Batmizwa einen Tallit nähen. Zwei lange Nachmittage haben wir gemeinsam daran gearbeitet. Mir hat das großen Spaß gemacht. Und vor einiger Zeit bat mich ein Freund, eine Mesusa für ihn zu basteln. Natürlich kann man so etwas auch im Laden kaufen, doch er wünschte sich eine Mesusa mit Katzen. In Deutschland ist so etwas schwer zu bekommen.

Ganz anders in New York und Israel. Dort gibt es Kippot, Leuchter und Mesusot für jeden Geschmack, mit allen möglichen und unmöglichen Motiven. Als ich von meinem Schauspielstudium aus New York zurückkehrte, kam mir alles, was die jüdischen Läden hier in Deutschland anbieten, grau und eintönig vor. Das war der Anstoß, Tallitot und Kippot selbst zu nähen, jüdische Neujahrskarten zu basteln und Kidduschbecher zu verzieren.

Nicht alles kann ich selbst machen. Für den Tallit bestelle ich mir ein koscheres Set aus Israel. Aus den einzelnen Fäden knote und wickle ich die Ziziot, die Schaufäden. Für die Mesusa bestelle ich eine kleine Schriftrolle, die ein Schreiber kalligrafiert hat.

Recht Manchmal ernte ich Kopfschütteln: Eine Frau mit Gebetsschal ist für viele immer noch ungewohnt. Der Tallit signalisiert, dass ich zum Minjan gehöre. Traditionell sind das nur Männer. Trotzdem habe ich mich nie als Feministin gefühlt. Ich muss mir den Tallit nicht erkämpfen, mich nicht dafür rechtfertigen. Ich hatte auch nie das Gefühl, eine Schwelle zu überschreiten, wenn ich mir den Tallit überwarf und eine Kippa aufsetzte. Ich betrachte es als mein Recht. Das Kopfschütteln der anderen ist mir egal. Es gibt viele Arten, jüdisch zu leben. Und ich finde es auch völlig in Ordnung, wenn andere Frauen keinen Tallit tragen.

Aus der Kindheit und Jugend kenne ich orthodoxe Synagogen. Meine Batmizwa-Zeremonie hatte ich in Stuttgart. Der Termin stand schon fest, doch dann verschob der Rabbiner meine Feier, weil ein Barmizwa wichtiger war. Noch heute ärgert mich das. Jungen wurden vollgültiges Gemeindemitglied, sie durften aus der Tora vorlesen und in einem kleinem Vortrag ihre Gedanken zum Wochenabschnitt vortragen. Ich durfte gerade mal vom Frauenbalkon einen auswendig gelernten Vers aus den »Sprüchen der Väter« aufsagen. Noch heute überlege ich, meine Batmizwa zu wiederholen.

Seit meiner Zeit in New York gehe ich in Gemeinden, in denen Männer und Frauen die gleichen Rechte haben. Während meines Archäologiestudiums in Berlin war das die Synagoge in der Oranienburger Straße. Jetzt in Heilbronn bin ich Mitglied der Württembergischen Landesgemeinde. Dort beteilige ich mich an der neu gegründeten liberalen Initiative, die gleichberechtigte Gottesdienste abhält.

scherben Zu einem Archäologiestudium gehören viele Praktika. Das bedeutet: Schaufel und Hacke in die Hand zu nehmen, Tier- und Menschenknochen, Keramikscherben, Schwerter, Kämme und alte Kloaken ans Tageslicht zu befördern. Ausgrabungen beginnen immer früh, in Israel morgens um sechs, damit man rechtzeitig fertig ist. Denn die Mittagshitze ist unerträglich.

In Israel haben wir an einer Stelle gegraben, wo der Homo erectus in der Altsteinzeit Waldelefanten geschlachtet hat. Zwischen Aschdod und Aschkelon fanden wir Faustkeile und Knochen der riesigen Dickhäuter – stumme Zeugen aus einer Zeit lange vor der Bibel. Löcher graben, Steine schaufeln und Erde sieben, Schubkarren schieben – die schwere körperliche Arbeit hat mich nie gestört. Ich habe auch schon auf einem Bauernhof gearbeitet.

Während meines Archäologiestudiums habe ich im Berliner Jüdischen Museum gejobbt, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dort hat man manchmal skurrile Begegnungen. Eine Dame nahm ganz selbstverständlich an, ich würde dort umsonst arbeiten, um die »deutsche Schuld abzutragen«. Sie hielt mich offenbar für eine Nichtjüdin. Eine andere Besucherin war fest davon überzeugt, dass Juden ihre Toten senkrecht beerdigen. Ich bin Archäologin genug, um zu wissen, dass ein Toter im Grab nicht lange stehen bleibt.

Berge Inzwischen habe ich mein Studium abgeschlossen und bin von Berlin nach Heilbronn gezogen – die Stadt, in der ich zur Schule gegangen bin und Abitur gemacht habe. Gerne jogge ich in den Neckarauen. Überhaupt liebe ich die Landschaft hier: die Weinberge, die alten Fachwerkhäuser und die Ruhe abseits der Städte. Gelegentlich fahre ich in die Schweiz. In Berlin haben mir die Berge immer gefehlt. Deshalb habe ich dort immer in der Kletterhalle trainiert. Eine Halle nutze ich hier auch, aber das Klettern unter freiem Himmel ist unvergleichlich.

Im Moment schlaucht mich die Suche nach einer Arbeit. Nach vielen Jahren des Jobbens und des Studiums möchte ich endlich eine richtige Stelle bekommen. Da private Hochschulen und Akademien im Moment wie Pilze aus dem Boden sprießen und ich gut organisieren kann und mehrere Sprachen spreche, würde ich gerne in einer Hochschule oder in einem Spracheninstitut arbeiten.

Doch häufig bekomme ich Absagen, oder meine Gesuche bleiben gänzlich ohne Antwort. Oder Hochschulvertreter verkünden in der einen Woche, dass sie mich schon auf einer bestimmten Stelle sehen und sagen eine Woche später doch ab. Das zehrt an den Nerven. Doch auf keinen Fall möchte ich Hartz IV beziehen. Eine Behörde, die mich kontrolliert und bestimmen kann, wann ich verreisen darf und wann nicht, ist für mich ein Albtraum. So jobbe ich weiter.

Geduld Für die Diakonie gehe ich mit demenzkranken alten Menschen spazieren, die langsam ihr Gedächtnis verlieren. Die Arbeit tut gut. Es ist schön, morgens aus dem Haus zu gehen und dem Tag eine Form zu geben. Zudem mag ich die alten Leute. Aber manchmal kostet es Kraft, zum zwanzigsten Mal die Frage zu beantworten, wie spät es ist und ob wir auch alles Nötige mitgenommen haben. Aber ich merke, die Arbeit macht mich geduldiger.

In meiner Freizeit spiele ich in einem Orchester Bratsche. Das gibt mir Energie. Meine Mutter ist Musik- und Englischlehrerin, da war es bei uns zu Hause selbstverständlich, ein Instrument zu lernen. Mich mit Tönen auszudrücken, entspannt mich bis heute. Es macht gar nichts, dass wir im Orchester manchmal Schnulzen wie die Erkennungsmelodie von »Doktor Schiwago« spielen. Kleine Unzulänglichkeiten gehören dazu. Lieber als die perfekte Aufnahme von der CD sind mir die selbst gespielten Töne. Ich mag es, die Bratsche und den Bogen in die Hand zu nehmen – und mein Leben auch.

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