Schaut man auf die Geschichte der Juden in Deutschland, so sieht man seit dem frühen Mittelalter ein eher unrühmliches Muster. In ihm spiegelt sich die wechselvolle Geschichte von Pogromen, Vertreibungen, Neuansiedlung und schließlich Vernichtung. Nach dem Genozid an den europäischen Juden erleben wir nun wohl die friedlichste Phase zwischen Juden und Nichtjuden. Seit 1945 herrscht sozusagen Ruhe nach dem Sturm.
Trotzdem zeugt es von Großzügigkeit, wenn Charlotte Knobloch nach all dem, was ihr und den Ihren während der Nazizeit zugestoßen ist, sagt: Ich bin in Deutschland angekommen.
Schrecken Wer als Jude die Verfolgung und Peinigungen im Dritten Reich durchleiden musste, bleibt, wie Jean Améry schreibt, »für immer gezeichnet, ... kann nicht mehr heimisch werden in der Welt«. Das eingestürzte Weltvertrauen könne nicht wiedergewonnen werden. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibe als gestauter Schrecken. Mit dem Wissen, wie schnell Zivilisation in Barbarei umschlagen kann, lösen nach Auschwitz auch noch die kleinsten Zumutungen Juden gegenüber Alarmglocken aus. Zeichen der Zeit ernst genug zu nehmen, ist eine Lehre aus der Geschichte. Gutgläubigkeit hat sich als Verhängnis erwiesen.
Mit dieser historischen Bürde gerät man als jüdischer Politiker sehr schnell in die nicht besonders attraktive Rolle des ewigen Mahners. Doch wie sehr die in der Öffentlichkeit stehenden jüdischen Persönlichkeiten auch versuchen, die Rolle der moralischen Oberinstanz abzuschütteln, die Realität bleibt hart. Die Intervalle von Zumutungen Juden gegenüber werden immer kürzer.
Denken Sie nur an die Beschneidungsdebatte, die übrigens trotz gesetzlicher Regelung weitergeht, denken Sie an den zusammengeschlagenen Rabbiner, den Rechtsradikalismus und vor allem an das permanente Israel-Bashing. Die Reihe ließe sich leider fortsetzen. Juden befinden sich in einem dauernden Spagat: Wir wollen ein friedliches Miteinander, wir suchen das Positive und erleben Negatives, tägliche Rückschläge.
Charlotte Knobloch hat stets im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden das Verbindende herausgestellt und setzt auf eine gemeinsame Zukunft. Mit ihrer Feststellung »In Deutschland angekommen« leistet sie einen Vertrauensvorschuss. Den gibt sie, indem sie, anknüpfend an die Vorkriegszeit, sich eine »jüdische Deutsche« nennt. Kaum einer der jüdischen Repräsentanten – mit Ausnahme Paul Spiegels – hat sich so bezeichnet. Sie will die von den Nazis vollzogene Trennung von Juden und Deutschen überwinden. Charlotte Knoblochs Titel In Deutschland angekommen signalisiert aber auch eine Veränderung. Während die Devise unserer Elterngeneration lautete, ja nicht hier bleiben und Deutschland lediglich als Durchgangsstation für ein Leben anderswo anzusehen, wissen wir, dass wir hier Wurzeln geschlagen haben.
teilhabe »In Deutschland angekommen« heißt folglich zudem, die Verhältnisse, in denen man lebt, auch mitzubestimmen. Und wer soll auf Zumutungen reagieren, wenn nicht wir, die Repräsentanten der angegriffenen Minderheit? Es gehört zum politischen Prozess einer Demokratie, die Mehrheit auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.
Charlotte Knobloch kämpft für die Stärkung des Judentums in Deutschland und seine Akzeptanz. Das jüdische Zentrum versinnbildlicht dieses Engagement. Seit über 27 Jahren steht sie der Jüdischen Gemeinde Münchens vor. Mit großem Geschick und Professionalität hat sie die Herausforderungen der Integration von Einwanderern aus den ehemaligen GUS-Staaten gemeistert. Es ist ihr zu verdanken, dass wir hier keine Berliner Verhältnisse haben.
Charlotte Knobloch kennt ihr Land. Bislang hat sie sich von Tiefschlägen nicht abbringen lassen, immer wieder das Positive, Gemeinsame im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden geradezu beschworen. Bei der Beschneidungsdebatte seien jedoch, wie sie in der Süddeutschen Zeitung Anfang September schrieb, ihre »Grundfeste ins Wanken geraten«. Wir fühlten uns kurz an Ignatz Bubis tieftrauriges Resümee erinnert, dass am Ende all sein Tun in Deutschland vergeblich gewesen sei. Aber bereits gestern konnten wir an gleicher Stelle lesen, dass nach der ersten Enttäuschung Charlotte Knoblochs Einschätzung der demokratischen Kräfte stärker ist als die ihrer Feinde.
Es sind immer einzelne Persönlichkeiten, die für alle etwas erreichen. Charlotte Knobloch gehört zu ihnen.