Der Weltverband der Child Survivors hat seine jährliche Tagung diesmal erstmals in Deutschland veranstaltet. Diente die Tagung selbst vor allem dem Austausch der Teilnehmer, die als Kinder den Holocaust überlebt hatten, wandte sich das Symposium »Lost Childhood – Jewish Child Survivors«, das im Anschluss am Mittwochnachmittag im Berliner Centrum Judaicum stattfand, veranstaltet von der Jewish Claims Conference, auch an eine breitere Öffentlichkeit.
In zahlreichen Redebeiträgen kamen im voll besetzten Veranstaltungssaal des Centrum Judaicum sowohl Experten, die sich dem Thema Child Survivors aus wissenschaftlicher Sicht näherten, als auch Zeitzeugen zu Wort, die von ihren persönlichen Erfahrungen berichteten.
Aus Expertensicht machte der in Deutschland geborene und in Tel Aviv lebende Historiker Avi Blumenfeld – selbst Sohn einer Mutter, die als Kind die Schoa überlebt hat – darauf aufmerksam, dass der Begriff »Child Survivor« erst seit etwa 1985 in Gebrauch ist. Per definitionem sind das europäische Juden, die bei Kriegsende höchstens 16 Jahre alt waren. Sie zeichnen sich laut Blumenfeld dadurch aus, dass unter dem Druck von Verfolgung, Versteck, Lagerhaft und Verlust der Familie ihre »Kindheit abrupt endete und aus Kindern gleichsam über Nacht Erwachsene wurden«. Nur höchstens elf Prozent aller jüdischen Kinder, die 1939 in Europa lebten, haben den Krieg überlebt, erklärte Blumenfeld.
Persönlichkeit Der Frankfurter Psychoanalytiker Kurt Grünberg, der Überlebende der Schoa therapeutisch betreut, sprach über die »psychosozialen Spätfolgen« für die Child Survivors, die sich auch auf deren Nachkommen noch auswirkten. Im Unterschied zu erwachsenen Opfern der Schoa hätten die Child Survivors nie eine normale Kindheit erlebt, was deren gesamte Persönlichkeit bis heute präge. Zum »extremen Trauma« durch die Verfolgung und den Verlust der Eltern kam laut Grünberg eine erneute Traumatisierung nach der Schoa: Ihre Trauer wurde kaum anerkannt, sie mussten sich an neue Bezugspersonen gewöhnen und fanden sich oft einer »feindseligen, antisemitischen Umwelt« gegenüber.
Viele, die etwa bei christlichen Familien untergekommen waren, erfuhren erst spät, dass sie überhaupt Juden waren. »Manche von ihnen leiden bis heute unter dem Gefühl, mit einer falschen Identität zu leben«, sagte Grünberg. In der Frage der psychosozialen Betreuung von Child Survivors sieht der Psychologe noch »akuten Handlungsbedarf«.
Der niederländische Kinderpsychiater David de Levita, selbst Schoa-Überlebender, zog in seinem Vortrag Parallelen zwischen seiner Arbeit mit Kindern, die im Bosnienkrieg traumatisiert wurden, und jüdischen Child Survivors.
Der Psychiater Martin Auerbach, klinischer Direktor von AMCHA, dem israelischen Zentrum für die psychosoziale Betreuung der Überlebenden des Holocaust und ihrer Kinder, sprach über die emotionale Situation der Kinderüberlebenden. Was viele von ihnen gemeinsam hätten, sei das Gefühl der »verlorenen Kindheit«, ein »andauerndes Bestreben, zugehörig und erfolgreich zu sein«, eine »unvollständige und verzögerte Trauer«, eine »ständige Alarmbereitschaft« sowie eine »Spaltung oder Dissoziation«, in der das Erwachsenen-Selbst und das traumatisierte Kind in der Psyche nebeneinander existieren. In der Psychotherapie gehe es, so Auerbach, darum, beide gleichsam miteinander ins Gespräch zu bringen. Auch im hohen Alter könne eine solche Therapie noch erfolgreich sein.
Versteck Bewegend war das Podiumsgespräch, das die Journalistin Esther Schapira mit fünf Zeitzeugen führte. Aviva Goldschmidt, ehemalige Leiterin der Sozialstelle der ZWST, erzählte, wie sie von ihrer Mutter im Versteck immer wieder ermahnt wurde, nicht zu lachen, zu weinen oder zu schreien, um nicht entdeckt zu werden. Nach dem Krieg, fuhr sie fort, habe es noch Jahre gedauert, bis sie sich endlich traute, laut zu lachen.
Die Rechtsberaterin Jona Laks überlebte Auschwitz nur, weil sie eine Schwester hatte und der KZ-Arzt Josef Mengele die beiden für seine berüchtigten Zwillingsexperimente missbrauchte. Bis heute, erzählte sie, habe sie panische Angst vor Gas und Feuer und könne deswegen nicht kochen. Seit ihr Mann vor drei Jahren gestorben sei, nehme sie zu Hause gar keine warmen Mahlzeiten mehr zu sich.
Daniel Chanoch, der in dem 2008 erschienenen Dokumentarfilm Pizza in Auschwitz zu sehen war, wurde mit elf Jahren nach Auschwitz deportiert und überlebte den Todesmarsch. Er schien im Humor ein Mittel zur Bewältigung gefunden zu haben. Der Niederländer Max Arpels Lezer wuchs bei einer christlichen Familie in einem Dorf in Friesland auf. Sein Trauma, berichtete er, begann erst nach dem Krieg, als sein Vater, der die Schoa überlebt hatte, ihn wieder zu sich holte. Dessen neue Frau – Lezers Mutter war in Auschwitz ermordet worden – schlug und beschimpfte den Zwölfjährigen. »Erst mit ihrem Tod begann mein Leben«, schloss er seinen Bericht.
Den Atem hielten die Zuhörer an, als sich die israelische Journalistin Yoella Har-Shefi erhob und mit lauter Stimme erklärte, sie könne nicht ruhig und distanziert von ihrer verlorenen Kindheit reden. »Wir haben nicht überlebt, wir sind innerlich gestorben. Im Alter von zwölf Jahren waren wir schon alte Leute«, rief sie. »Nach der Schoa sind wir noch einmal gestorben, wir wussten doch gar nicht, wie wir uns im normalen Leben zurechtfinden sollten.« Dann stieß sie einen lauten Schrei aus. »Das war, was wir alle ständig unterdrücken, um normal zu wirken.«