Leider hat er nur 400 Seiten. Dabei ist der Roman Gott wohnt im Wedding von Regina Scheer so spannend geschrieben, dass es ruhig noch mehr Lektüre hätte sein dürfen. Es sind verschiedene Erzählstränge, die die Historikerin, Journalistin und Autorin miteinander verflochten hat.
Wedding Dreh- und Angelpunkt ist ein mittlerweile heruntergekommenes Haus in der Utrechter Straße im Berliner Bezirk Wedding und dessen 120-jährige Geschichte. In diesem Gegenwartsroman erzählt Regina Scheer von Menschen, die noch in dem Haus wohnen oder gewohnt haben. Hauptakteure sind Leo, Gertrud und Laila. Sie alle sind schicksalhaft miteinander durch Vergangenheit und Gegenwart verknüpft.
Der jüdische Jugendliche Leo findet mit seinem ebenfalls jüdischen Freund Manfred ein Versteck vor den Nazis in dem Mietshaus – bei Gertrud, die mit Manfred eine Liebesaffäre hatte. Manfred wird von der Gestapo abgeholt und ermordet. Irgendjemand muss ihn verraten haben. Leo glaubt sein ganzes Leben lang, dass es Gertrud war. Sie hingegen kommt über den Verlust nie hinweg und bleibt ihm lebenslang treu.
Sprung in die Gegenwart: Nie hat die mittlerweile 90-jährige Gertrud eine andere Adresse gehabt als die im Wedding. Leo überlebt, emigriert ins damalige Palästina, heiratet und lebt im Kibbuz. Mit seiner lebenslustigen Enkelin reist Leo nach Berlin, um die Erbschaft seiner verstorbenen Frau zu regeln – und taucht in seine Vergangenheit ein.
Mit seiner lebenslustigen Enkelin reist Leo nach Berlin, um die Erbschaft seiner verstorbenen Frau zu regeln – und taucht in seine Vergangenheit ein.
Gertrud will er eigentlich nicht treffen, aber all die Tage seines Aufenthalts in seiner früheren Heimatstadt ist er in Gedanken bei ihr, bis er doch endlich die Stufen zu ihrer Wohnung hochsteigt, um die Wahrheit zu erfahren.
Ein anderer Erzählstrang ist Laila gewidmet, die nach ihrer Scheidung ebenfalls eine Wohnung in dem verfallenen Haus gefunden hat. Ihre Vorfahren lebten in Berlin und haben sogar das Mietshaus mitgebaut. Die 40-Jährige ist eine »integrierte Sinti«, die sich als Sozialarbeiterin bei Behörden für Familien einsetzt und sich darüber hinaus um Gertrud kümmert. Während der Schoa wurden ihre Vorfahren deportiert.
Laila hat studiert, arbeitet aber letztendlich im Blumenladen ihres Schwiegervaters und hilft den Sinti und Roma, die in dem Haus leben, in allen möglichen Situationen, sogar bei der Geburt eines Kindes.
Es gelingt Regina Scheer bis ins kleinste Detail, Gegenwart und Vergangenheit vor dem Hintergrund deutscher Geschichte am Beispiel von Einzelschicksalen zu verknüpfen. Aber die Autorin widmet sich nicht nur der Historie von Verfolgung, sondern greift auch aktuelle Themen wie Migration, Gentrifizierung und Verdrängung auf.
Es gelingt Regina Scheer bis ins kleinste Detail, Gegenwart und Vergangenheit vor dem Hintergrund deutscher Geschichte am Beispiel von Einzelschicksalen zu verknüpfen.
KUNSTGRIFF Am Schluss reist Leo wieder ab und plant, mit der Erbschaft den Neubau des Altenheims des Kibbuzes zu finanzieren. Laila nimmt das Mädchen, bei dessen Geburt sie dabei war, an. Und Gertrud stirbt wenige Minuten, bevor das Haus chinesischen Immobilienhaien zum Opfer fällt und abgefackelt wird.
All diese Geschichten bündeln sich in einem Haus, das immer wieder selbst zu Wort kommt und aus der Ich-Perspektive berichtet. Dieser Kunstgriff ist bestimmt Geschmackssache. Der Roman fordert den Leser durchaus heraus.
1992 erschien Scheers erstes Sachbuch Ahawah. Das vergessene Haus über das jüdische Kinderheim in der Auguststraße. Sie schrieb über eine junge deutsche Zionistin, die in Palästina ein Waisenhaus gründete, über die Herbert-Baum-Gruppe – jüdische Widerstandskämpfer gegen die Nazis –, und über die Familiendynastie der Liebermanns, zu der der Maler Max Liebermann gehörte. Dieses Wissen ist Grundlage auch ihres neuen Romans.
Regina Scheer: »Gott wohnt im Wedding«. Penguin, München 2019, 416 S., 24 €