Kein Gottesdienst, keine Jugendgruppe, keine Chorprobe – alles wird auf später verschoben. Die Jüdische Gemeinde Münster hat sämtliche Gemeindeaktivitäten auf null heruntergefahren. »Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen«, versichert Sharon Fehr.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde im westfälischen Münster ist auch für seine Mitbeter derzeit nur »auf Abstand« zu erreichen: telefonisch. »Die Corona-Pandemie verlangt auch von uns Opfer und fordert Vernunft, was das religiöse und soziale Gemeindeleben angeht«, betont Sharon Fehr. »Schwierige Zeiten erfordern ungewöhnliche Entscheidungen.«
Solidarität Gleichzeitig will die Jüdische Gemeinde Münster aber mit ihrem Beschluss »ein öffentliches Zeichen der Vernunft und der Solidarität setzen mit Betroffenen wie Kunst- und Kulturschaffenden, Betrieben und Geschäften, Schwestern, Pflegern, Ärzten, Hilfsdiensten und Menschen, die unter dem Lockdown am Rande ihrer Existenz stehen«.
Nur noch einmal am Tag kommt Fehr derzeit ins Büro der Gemeinde in der Klosterstraße, um nach dem Rechten und der Post zu schauen. Sonst sind die Räumlichkeiten leer, die Heizanlage ist auf Minimalbetrieb eingestellt. »Nichts würde den ethisch-moralischen Ansprüchen unserer jüdischen Religion mehr widersprechen, als die Inanspruchnahme der freien Religionsausübung und dabei den Schutz der Gesundheit und des Lebens aufs Spiel setzen zu wollen«, sagt Fehr am Telefon. »Das wäre zutiefst unjüdisch!«
öffentlichkeit Einschneidende Auswirkungen auf das jüdische Gemeindeleben in Münster hatten die Corona-Beschränkungen bereits im Dezember. So wurden die Gottesdienste zu Chanukka abgesagt, in der Gemeinde fand kein Kerzenzünden in festlich gestimmter Gemeinschaft statt. Das in Münster schon zur Tradition gewordene öffentliche Entzünden der großen Chanukkia auf dem Maria-Euthymia-Platz musste abgesagt werden. »Aus Verantwortung, aber auch aus Pflichtbewusstsein der Gemeinde und der Gesellschaft gegenüber«, sagt Sharon Fehr. »Das erste Licht wurde nur in einem sehr kleinen Kreis entzündet, danach täglich zu unterschiedlichen Zeiten, um Ansammlungen zu verhindern.«
Die Anregung, das Gemeindeleben komplett herunterzufahren, kam im November, als Beter in der WhatsApp-Gruppe der Gemeinde die Gottesdienste und die Gefahren einer Ansteckung auf dem Weg in die Synagoge thematisierten, da nicht jeder fußläufig entfernt wohnt. »Wir haben dies aufgegriffen und in der Gemeinde breit diskutiert.«
Digitalunterricht Aufgrund der Erfahrungen aus dem ersten Lockdown hatte Fehr mit dem Vorstand bereits den Hebräischkurs auf Digitalunterricht umgestellt. Auch der Religionsunterricht in der drittgrößten Gemeinde in Westfalen-Lippe findet jetzt mit digitalem Abstand statt. »Das klappt gut«, sagt Fehr. Die Sozialarbeiterin ist telefonisch für die zahlreichen, vor allem älteren und aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Gemeindemitglieder erreichbar.
Gemeindeinformationen wurden für diejenigen, die kein Internet haben, per Boten kontaktlos zugestellt.
Die sozialen Medien helfen auch jetzt beim Zusammenhalt unter den rund 560 Mitgliedern und bei der Organisation von jüdischer »Nachbarschaftshilfe«. Per WhatsApp werden Einkaufszettel versandt, damit Ältere mit Lebensmitteln versorgt und Hilfsanfragen ausgetauscht werden können. Während der Pandemie, berichtet Sharon Fehr stolz, »haben vor allem jüngere Mitglieder unserer Gemeinde und jüdische Studierende an der Uni in Münster die Ärmel hochgekrempelt und sind eingesprungen, wenn Mitglieder um persönliche Hilfe baten«.
Fahrdienst Gemeindeinformationen wurden für diejenigen, die nicht digital mit der Gemeinde vernetzt sind, per Boten kontaktlos zugestellt. Außerdem organisierten die jüngeren Gemeindemitglieder Fahrdienste für Arztbesuche und notwendige physiotherapeutische Behandlungen. »So schmerzlich für uns die Einschränkungen in der Ausübung unseres jüdischen Gemeindelebens sind, wir spüren andererseits auch, dass das Band, das uns seit Tausenden von Jahren zusammenhält auch durch die Corona-Pandemie und Lockdowns nicht zu durchtrennen ist.«
Einen Corona-Fall hat es in der Gemeinde »Gott sei Dank« noch nicht gegeben, berichtet Fehr. Sharon Fehr glaubt nicht so recht, dass bereits im Februar die Gemeindeaktivitäten wiederaufgenommen werden können. »Ich würde mich freuen, wenn wir bis Schawuot wieder einen Gottesdienst mit allen Beterinnen und Betern feiern können«, sagt der Gemeindevorsitzende vorsichtig.