Hana ist verliebt. Beim Tanz im Wirtshaus will sie für ein paar Momente die Sorgen in unsicheren Kriegszeiten vergessen. Doch der Ausflug aufs Parkett endet abrupt, als der Dorfpolizist erscheint. Er fordert die junge Frau auf, den Saal augenblicklich zu verlassen. Seine Worte sind eindeutig: »Ab sofort ist es Nichtariern verboten, an öffentlichen Vergnügen teilzunehmen.« Dass sie sich als Jüdin hat katholisch taufen lassen und in einem sorbischen Haushalt aufwuchs, zählt 1941 nicht.
Adoption Klar und anrührend erzählt der Schriftsteller Jurij Koch das Verfolgungsschicksal einer jungen Frau. Die Novelle Hana, die bei Hentrich & Hentrich in Leipzig herauskam, beruht auf der wahren Lebensgeschichte von Annemarie Schierz aus Horka, einem kleinen Dorf nordwestlich von Bautzen. Ihre jüdische Mutter brachte sie 1918 zur Welt und gab das Mädchen zur Adoption frei. Ab 1941 musste sich Hana regelmäßig bei der Gestapo in Dresden melden. Ein Jahr später verliert sich ihre Spur.
Bereits 1963 erschien die Erzählung über die Jüdin Hanna auf Sorbisch.
Jurij Koch, der ebenfalls in Horka geboren wurde, brachte bereits 1963 eine Erzählung über die Jüdin Hana auf Sorbisch heraus. Das Buch erfuhr mehrere Auflagen, eine deutsche Übersetzung gab es lange Zeit nicht.
neuauflage Inzwischen liegt Kochs Erzählung in einer schön gestalteten Ausgabe auf Deutsch vor. Wesentlichen Anteil daran hat Hilger Weisweiler aus Tübingen. Nachdem er sich selbst Sorbisch beigebracht hatte, übersetzte er das Original mit dem Titel Židowka Hana. »Das Buch hat mich sehr beeindruckt, und so wollte ich den Inhalt auch Freunden und Verwandten zugänglich machen«, erzählt der pensionierte Bibliothekar.
Mit dem zeitlichen Abstand fand Jurij Koch allerdings, dass sein Erstlingswerk in der ursprünglichen Fassung »literarisch nicht gut« sei. So beschloss der heute 84-Jährige, die Geschichte völlig neu zu erzählen, auch mit neuen Erkenntnissen.
Das Schicksal des Mädchens mit jüdischer Herkunft sei in seinem Heimatdorf immer wieder im Gespräch gewesen, erinnert sich Koch, der heute in Cottbus lebt. Die tragische Geschichte bewegte die Menschen in Horka. Vor dem Gehöft, in dem Hana bei den Geschwistern Marie und Georg Schierz aufwuchs, wurde für sie 2014 der erste Stolperstein in sorbischer Sprache verlegt.
»Mein Großvater hatte Annemarie Schierz in seiner Kindheit noch erlebt«, erzählt Alexander Polk.
Auch Alexander Polk, der aus einem Nachbarort von Horka stammt, hörte von der Jüdin Hana. »Mein Großvater hatte Annemarie Schierz in seiner Kindheit noch erlebt«, erzählt der junge Mann. Als er Geschichte in Dresden studierte, machte er die Biografie der Katholikin mit jüdischen Wurzeln zum Thema einer Seminararbeit. Diese wiederum wurde zu einer wichtigen Quelle für den Historiker Hermann Simon, der das Nachwort für die jetzt neu erschienene Novelle Hana verfasste.
verfolgung Den Gründungsdirektor der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum« interessierten die Sorben schon lange. Auch Sorben wurden während des Nationalsozialismus verfolgt. Sorbische Vereinigungen waren ab 1937 verboten. Die Frage, ob es Verbindungen zwischen Juden und Sorben gab, stellte sich Simon bereits zu DDR-Zeiten. Er fand einige Antworten, darunter das bekannte Beispiel des jüdischen Publizisten Victor Klemperer (1881–1960), der in einem sorbischen Dorf versteckt wurde.
1990 fiel dem Historiker zufällig Kochs Erzählung in die Hände, doch ohne Übersetzung nützte sie ihm wenig für einen eigenen Text. Das Thema packte ihn erneut, als er 2018 gebeten wurde, einen Vortrag aus Anlass des 100. Geburtstags von Annemarie Schierz in Bautzen zu halten. Simon vertiefte sich in die Erforschung ihrer Geschichte, die ihn nicht mehr losließ.
Der Historiker fand in Archiven und Dokumenten von Bautzen, Kamenz und Chemnitz sowie mithilfe des Berliner Landeskriminalamtes viel Material. Seinem Nachwort ist anzumerken, wie akribisch er nach Fakten aus dem Leben von Hana gesucht hat. Dennoch ließ sich ihr Weg nicht bis zum Schluss zurückverfolgen. Vermutlich starb sie 1943. Wo, ist nicht bekannt.
Katholikin Jurij Koch seinerseits nutzte seine literarische Freiheit einfühlsam, um die bewegende Geschichte neu zu schreiben. Auf gut 70 Seiten reihen sich die Episoden dicht aneinander. Das drohende Unheil ist zunehmend spürbar, etwa als Hana untersagt wird, den Gottesdienst in der katholischen Kirche zu besuchen oder ihre geplante Flucht scheitert.
»Geschichte wird deutlich am Einzelschicksal«, sagt Hermann Simon. Er wünscht sich, dass möglichst viele Menschen von Annemarie Schierz erfahren, damit sich ihre Geschichte weiter aufklären lässt. Der nun auf Deutsch vorliegenden Erzählung misst er deshalb große Bedeutung bei. »Vielleicht meldet sich jemand, der Hinweise geben kann.«
Jurij Koch: »Hana. Eine jüdisch-sorbische Erzählung«. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2020, 120 S., 16 €