Sofer und Rabbiner Reuven Yaacobov von der sefardisch-orthodoxen Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wird in wenigen Minuten die letzten Buchstaben der Tora im Erfurter Hirschgarten schreiben. Es ist das letzte Wort im 5. Buch Mose. Hunderte Menschen sind vor die Thüringer Staatskanzlei gekommen, dieses so besondere Ereignis mitzuerleben: Mitglieder der Jüdischen Landesgemeinde, viele Christen und Neugierige.
Die Luft flirrt vor Freude und Erwartung. Noch nie wurde in Thüringen eine neue Torarolle geschrieben. Das erlebt eine jüdische Gemeinde selten. Unter Beifall und regelrechtem Festgefühl wird die neue Tora zunächst mit einer Traditionsstraßenbahn durch die Stadt gefahren, begleitet von Landesrabbiner Alexander Nachama, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) und den Bischöfen Friedrich Kramer von der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands und Ulrich Neymeyr vom katholischen Bistum Erfurt sowie dem Orchester Simkhe.
Jubel Als unter den Klängen der Marimba Reuven Yaacobov das letzte Wort der insgesamt 613 Gebote schreibt und schließlich die Tora in die Höhe hält, brandet großer Jubel auf. Unter normalen Umständen hätten auch Honoratioren bei dem Wort »Israel« assistieren dürfen, doch Corona verhindert diese Tradition. Dennoch gibt es ein symbolträchtiges Bild mit Sofer, Rabbiner, Ministerpräsident und den beiden Bischöfen.
Erst am Vorabend war der Toramantel aus Israel via Berlin eingetroffen.
Unter Klezmer-Klängen und in Begleitung Hunderter Menschen wird die Tora unter einer Chuppa von Rabbiner Nachama bis vor die Synagoge getragen. In diesen Minuten geht ein nahezu zweijähriges Projekt zu Ende: »Tora ist Leben. Leben ist Tora«. Die neue Schriftrolle ist in einen roten Mantel gehüllt und mit goldener Schrift verziert.
Erst am Vorabend kam dieser Mantel mit dem Flugzeug aus Israel via Berlin an. In goldenen Buchstaben und auf Deutsch ist darauf »Schau, wie gut und angenehm ist es, wenn Brüder zusammen wohnen« zu lesen. Das Einbringen der Tora ist ein religiöser Akt. In Zeiten von Corona können sie nur wenige Gäste in die Synagoge begleiten. Aber es gibt einen Livestream, den die Gäste im Freien sehen können. Zu ihnen gehören neben vielen Prominenten auch Thüringer aus anderen Städten, unter anderem aus Eisenach, die im Rahmen der Achava-Festspiele eingeladen wurden.
Miteinander Für den Protestanten Ramelow ist die Entstehung der Tora ein »besonderer Akt des Miteinanders«. Die beiden Bischöfe nannten den Tag der Übergabe an die Jüdische Landesgemeinde schon im Vorfeld ein »starkes sichtbares Zeichen der Verbundenheit und der Solidarität von Juden und Christen« und erklärten noch einmal ihre Erleichterung und Dankbarkeit, dass die Jüdische Landesgemeinde die Entschuldigung der beiden Kirchen für ihr Tun und Nichttun in der Nazi-Zeit angenommen habe.
Von allen Seiten wurde die Arbeit des sefardischen Rabbiners und Sofers Reuven Yaacobov gewürdigt. Der Jüdischen Allgemeinen versicherte er, dass »es nicht einen einzigen Fehler gibt«. Das ist bei 304.805 Zeichen bewundernswert. Geschrieben wurden die fünf Bücher Mose natürlich mit einem Gänsekiel und koscherer Tinte auf Pergament. »Die Tora ist vollkommen und erfreut die Seele«, erklärt ein strahlender Landesrabbiner Alexander Nachama. Die 613 Gebote seien die Grundlage jüdischen Lebens.
Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, konnte nicht nach Erfurt kommen, da er schwer erkrankt ist. »Für mich ist das Torageschenk der beiden Kirchen ein Ausdruck der Freundschaft und der Versöhnung«, sagt er von seinem Krankenbett aus der Jüdischen Allgemeinen.
workshops Landesrabbiner Alexander Nachama hatte für die inhaltliche Ausgestaltung des Projektes »Tora ist Leben« gesorgt, seit vor knapp zwei Jahren der erste Buchstabe geschrieben wurde. Alexandra Husemeyer ist die Projektkoordinatorin von »Tora ist Leben« und organisierte 20 Workshops zum Thema. Insgesamt 3000 Menschen erreichte sie mit diesen Angeboten. Immer wieder reiste der Sofer durch Thüringen, um auch öffentlich an der Tora zu schreiben.
Zu denen, die im Rahmen des Themenjahres »900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen« aktiv geworden waren, gehörte auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und meldete sich mit einem Festvortrag in Berkach zu Wort. Er ging dort unter der Fragestellung »Ist Chanukka das jüdische Weihnachten?« darauf ein, wie wenig Wissen es über die jüdische Kultur und jüdisches Leben im deutschen Alltag gibt. Er erklärte, wie notwendig der Kampf gegen Antisemitismus sei und wie wichtig ein größeres Wissen über das Judentum.
Wegen Homeschooling der Kinder schrieb Yaacobov vor allem nachts.
Eigentlich standen die Zeichen, dass die Tora zum vorgegebenen Zeitpunkt in die Synagoge eingebracht werden könnte, nicht gut. Zunächst kam die Pandemie, die auch Yaacobovs Kinder ins Homeschooling zwang. Damit war am Tage nicht an
Schreiben zu denken. Ein Wackler am Tisch hätte die gesamte Tora verdorben. »Ich habe nachts zwischen 22 Uhr und zwei Uhr geschrieben«, erzählt Yaacobov.
Den Unfall im April, bei dem er sich die linke Schulter auskugelte, hingegen erwähnt er nicht. Eine feste Bandage arretiert die verletzte Schulter. Mit dem ihm eigenen Humor erzählt er der Jüdischen Allgemeinen von den vielen Wundern, dank derer die Tora nun geschrieben sei. Es ist seine 20. Schriftrolle, die er gefertigt hat. »Und es war aufgrund der Umstände die schwerste und ist doch die schönste Tora geworden«, ist er überzeugt. Über ihre Entstehung wurde auch ein Dokumentarfilm gedreht.
Torafreuden Einen Tag vor der Fertigstellung war Simchat Tora begangen worden, das Fest der Torafreude. »Vor der feierlichen Einbringung der Torarolle in die Synagoge, haben der Sofer und ich die Torarolle vom letzten Abschnitt (Wesot Habracha) auf Bereschit, die Schöpfung, eingestellt.« So sei sie schon für die Vorlesung am Schabbat vorbereitet, verriet Nachama, und es konnte bereits aus der neuen Tora gelesen werden.
Nicht erst mit ihr wächst das Miteinander von Juden und Christen in der Stadt. Immerhin haben die beiden jüdischen Schwestern Hannelore und Ruth Cars gemeinsam mit ihrer Mutter die Tora 1938 aus der brennenden Synagoge gerettet. Überdauern konnte die heilige Schrift in der Obhut der Kirche. Doch das Geschenk einer neuen Schriftrolle dürfte das Miteinander dauerhaft beeinflussen. Wie sagte doch Ministerpräsident Bodo Ramelow: »Wir Christen bauen auf dem Fundament auf, das das Judentum gebaut hat.«