Ich mag diese Stadt. So gern streife ich durch die vielen Parks und Grünanlagen. Es ist schön zu beobachten, wie die Knospen zu sprießen beginnen. Es duftet nach Leben, nach Frische, nach Aufbruch. Dessau – das ist nicht einfach nur irgendeine Stadt in Sachsen-Anhalt.
Das sind Kurt Weill und Moses Mendelssohn. Das ist das Bauhaus mit Gropius und Feininger, mit Wagenfeld und Kandinsky. Es ist eine kleine, intime und doch so weltläufige Stadt. Es ist meine Heimat. Dabei bin ich gar nicht in Dessau geboren. Wenn man so will, bin ich eine Zugereiste auf einem Weg, dessen Ziel ich nicht kannte. Aber das ist ohnehin das Motto meines Lebens. Ich suche nicht, ich werde gefunden. Das war schon immer so, in der Partnerschaft genauso wie im Religiösen.
Vorfahren Mir war jahrzehntelang nicht klar, dass ich Jüdin bin. Zu Hause wurde darüber kein Wort gesprochen. Meine Großeltern hatten ihr Judentum zwar noch bewusst gelebt. Meine Eltern dagegen haben sich – zumindest vor mir – gescheut, sich dazu zu bekennen. Erst viel später, nach 1990, konnte ich meine Mutter dazu befragen.
Sie sagte: »Wir wollten doch nur das Beste für euch.« Irgendwie habe ich das verstanden, auch wenn es schwer war. Aber als ich sie dann zur Pflege nach Deutschland geholt hatte und sah, wie berührt sie am Schabbes von den Gebeten war, da begriff ich, wie tief die jüdische Tradition in ihr verwurzelt war.
Meine Familie lebte im pommerschen Jadrowice. Es war eine vergleichsweise betuchte Familie chassidischer Juden. Meine Großmutter konnte ihre drei Söhne zum Studium nach Heidelberg schicken. Der eine arbeitete dann beim Roten Kreuz in der Schweiz. Der andere ging zur Résistance nach Frankreich. Und mein Vater kehrte als Tierarzt in die Heimat zurück.
Dass unsere Familie die Schoa überlebte, ist einer Mischung aus Glück, Zufall und Menschlichkeit zu verdanken. Großmutter arbeitete bei Gutsbesitzern, in deren Haus die SS rauschende Feste feierte. Obwohl viele von ihrem Judentum wussten, verriet niemand etwas. Das war ihr Glück.
Meine ersten Erinnerungen an das Polen, in das ich 1950 hineingeboren wurde, sind blass. Auf der einen Seite sind da die unendlich schönen Bilder von Wiesen und Feldern, über die ich mit meinem Vater lief oder die wir mit der Kutsche abfuhren. Er war nach der Enteignung der Gutsbesitzer als Verwalter eingesetzt worden. Das satte Grün und das Gold der Ähren, die Hunde umrundeten uns, und ich hing am Zipfel der väterlichen Reithose.
Auf der anderen Seite sind da die ständigen Festnahmen und Inhaftierungen meines Vaters, weil er den Stalinisten die Stirn bot. Im Polen der Nachkriegszeit reichte schon eine falsche Bemerkung aus, um hinter Gitter zu kommen. Während mein Vater immer wieder abgeholt wurde, musste sich meine Mutter dauernd bei der politischen Polizei melden. Sie wurde nur deshalb nicht inhaftiert, weil sie ein Kleinkind hatte, das sie stillen musste. Also wurde mir demonstrativ bis ins Alter von vier Jahren die Brust gegeben.
Polen Wie in Deutschland hatte auch in Polen nach dem Krieg jede Familie ihre eigene Geschichte. Niemand erzählte, und niemand fragte. Obwohl ich unendlich froh war, die Grundschule überstanden zu haben, wollte ich keinesfalls in das private Internatsgymnasium. Aber es half nichts, ich musste. Und erst über die Jahre habe ich dies als wichtigen Teil auf dem Weg zur Selbstständigkeit schätzen gelernt.
Nach dem Abitur studierte ich in Lodz an einer privaten Universität – ich war ja kein Arbeiterkind. Philosophie und Psychologie, Germanistik und Linguistik interessierten mich. Ich las, was immer ich in die Hände bekam, und sog alles auf: Sartre, Platon, Aristoteles, die Klassiker und die Moderne. Das alles hat mich bis heute geprägt. Ich liebe es noch immer, Sartre zu lesen oder Jeschajahu Leibowitz. Ich schätze die Filme von Ingmar Bergman und finde seine Drehbücher unglaublich faszinierend.
Obwohl ich ja nun Rentnerin bin – zuvor habe ich als Lateinlehrerin an einem Gymnasium gearbeitet –, habe ich eigentlich immer zu tun. Ich lese viel und suche die Literatur nach meiner Stimmungslage aus: bis hin zu Puschkin oder Tolstoi. Vor zwei Jahren habe ich begonnen, Chopin zu spielen – allerdings mehr schlecht als recht. Nebenbei arbeite ich an einem Essay, der sich mit Fragen des Humanismus beschäftigt. Und dann ist da noch meine Bauhaus-Klasse mit Schülern aus aller Welt, die ich für ein paar Stunden die Woche als Linguistik-Dozentin unterrichte.
Wie ich nach Dessau kam? Es ist einer dieser Zufälle. Nach dem Studium war ich in Polen als Dolmetscherin in einem Stickstoffwerk angestellt. Mein Chef war ein Österreicher, der mich heiraten wollte. Die polnische Stasi verlangte daraufhin, für sie zu arbeiten oder drohte andernfalls, mich abzuschieben: für mich unvorstellbar. Also bot ich an, das Land selbst zu verlassen, wenn ich einen Pass bekäme. Und den bekam ich.
So ging ich 1978 schließlich in die DDR, wo ich einen Freund heiratete. Wir haben ein ganz normales Leben geführt. Mich hat es letztlich nach Wolfen in die legendäre Filmfabrik verschlagen, wo ich bis zur Wende 1990 in der Betriebsakademie tätig war. Dann, als alle Betriebe zusammenbrachen, wechselte ich in den Schuldienst.
Archive Es muss gleich nach der Wende gewesen sein, als sich alles für mich wie ein Bild zusammensetzte. Mit meiner Tochter Keren und meinem Ex-Mann stießen wir auf die Synagoge in Gröbzig, die als eine der wenigen in Deutschland die Pogromnacht 1938 überstanden hatte. Plötzlich fügte sich alles. Ich sah Judaica, die ich aus der Kindheit kannte, traf auf Menschen, die meine Fragen schlüssig beantworteten und stieß auf jiddische Gerichte, die auch zu Hause gekocht worden waren. Alles machte irgendwie Sinn.
Ich begann zu recherchieren, versuchte in Polen Mutter und Bruder zu befragen. Ich recherchierte in Archiven. Und als ich schließlich sicher war, da ließ ich mir vom Standesamt in Dessau zu meinem polnischen Vornamen Bozena auch meinen jüdischen Namen in den Ausweis eintragen: Bathsheba-Betel.
Mein Judentum trägt mich und macht mich reich. Ich bin fest überzeugt, dass Glaube nicht von der Erfahrung kommt, sondern dass Erfahrung aus dem Glauben wächst. Ich lebe von Schabbes zu Schabbes. Jeden Freitag gehe ich zum Gottesdienst in die Gemeinde, die für mich Heimat geworden ist.
Am Schabbes halte ich die Ruhe ein, lese und denke viel an meine Tochter Keren. Sie ist jetzt 34 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann, einem Israeli, und ihren drei Kindern am Rande von London. Kennengelernt hat sie ihn, als ich mit ihr das erste Mal in Jerusalem war und sie ihn auf der Straße nach dem Weg fragte.
Die beiden haben sich nie mehr aus den Augen verloren. Ihre Hochzeit 1998 war die erste chassidische in Krakau nach dem Krieg. Ein-, zweimal im Jahr besuche ich die Familie. London ist eine aufregende Stadt, in der man sich treiben lassen und das Leben genießen kann. Man erlebt dort Kulturen und Religionen so intensiv wie an kaum einem anderen Ort.
Vor allem der Glaube ist es, der mich immer wieder aufs Neue glücklich macht. Und trotzdem habe ich auch Träume. Ich bin alleinstehend, aber ich erlebe viel. Langeweile kenne ich also nicht. Doch gibt es Augenblicke, in denen ich mir klarmache, dass die Zahl Eins zwar eine volle Zahl ist. Doch eine Zwei lässt sich eben besser teilen. Und genauso ist das auch im Leben.
Aufgezeichnet von Steffen Reichert