Swetlana Sabudkina hat ihre Hände in den Schoß gelegt und macht eine Pause. Während die Übersetzerin Sabudkinas Worte überträgt, nickt die ältere Dame in dem blauen Strickpullover, die ihr Leben nun auf Deutsch wiedergegeben hört. Sechs Jahre war Sabudkina, als der Zweite Weltkrieg begann. Ihr Bruder war gerade zwei geworden, die Mutter Jüdin, der Vater Russe.
Nach einer langen Flucht aus Kiew kamen sie irgendwann im Ural an, wo sie von einer Frau aufgenommen wurden. »Sie hat uns ein Bett geben können, in dem wir mit meiner Mutter zu dritt drin haben schlafen können.« Dort verbrachte Sabudkina die Kriegsjahre, »und als wir nach Kiew zurückkamen, wurde da noch gekämpft«.
Frank-Walter Steinmeiers Hände sind ineinander gefaltet. Auch der Bundespräsident nickt beim Zuhören, wartet mit höflicher Geduld, bis Swetlana Sabudkina zu Ende erzählt. Er hört den Satz: »Es ist der zweite Krieg für mich.« Er hört das russische Wort »Spasibo« für »danke«, das an diesem April-Vormittag im Berliner Osten noch sehr oft fallen wird.
DANKBARKEIT Denn alle Gäste sind dankbar, dass sie aus der Ukraine fliehen konnten. Es sind vier Schoa-Überlebende – drei Frauen und ein Mann – und zwei Angehörige, darunter Swetlanas erwachsener Sohn Alexander. Zwei weitere hochbetagte Schoa-Überlebende fehlen an diesem Vormittag. Sie sind erkrankt. Mithilfe der Jewish Claims Conference, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und einem Netzwerk aus Organisationen und Verbänden konnte diesen Menschen ein neues Zuhause gegeben werden.
Und das befindet sich in Berlin-Biesdorf, in der Tages- und Nachtpflegeeinrichtung »EL (Erfülltes Leben)-Jana«. Helle Räume, apricot-farben gestrichen, Blumenbilder an den Wänden, Blumen auf den Tischen. Nichts soll hier an Zerstörung erinnern, an die Traumata. Ein Haus ist es, aber ein Zuhause auch für immer?
»Allein der Umstand, dass man hier den Wasserhahn aufdrehen kann und das Wasser aus dem Hahn trinken kann, spricht schon für sich.«
swetlana Sabudkina
»Wir sind hier sehr herzlich aufgenommen worden. Es sind wunderbare Menschen, die uns aufgenommen haben. Ich habe so vieles gehabt, weshalb ich mir Sorgen machen musste, dass ich noch keine Entscheidung getroffen habe, wie es weitergehen soll«, sagt Sabudkina und macht klar, was der Unterschied zwischen dem Jetzt und der Zeit davor ist: »Allein der Umstand, dass man hier den Wasserhahn aufdrehen kann und das Wasser aus dem Hahn trinken kann, spricht schon für sich.«
Sabudkina und ihr Sohn Alexander wohnen in einem Raum, der schlicht Ruheraum heißt. Zwei einzelne Betten, ein großer Schrank rechts, ein Tisch links, an der Wand Bilder in Pastell. Und in einer Ecke bei der Heizung ein Katzenkorb. Eine Transportbox. Sie ist leer. Rudja, die zierliche weiß-orange-rote Katze sitzt mit großen Augen unter dem Bett. Geheuer scheint ihr das alles nicht, aber sie musste natürlich mit, denn auch sie ist ein Teil von Sabudkinas Zuhause. Das »EL-Jana« ist eine junge Einrichtung. Einen Tag vor Beginn der Pandemie eröffnet, mit modernem Pflegekonzept und Tagesgästen, die in Ruheräumen nach dem Mittag etwas für sich sein können.
verpflichtung Und weil diese Räume während der Pandemie nicht genutzt wurden, war es für Thomas Böhlke, den Geschäftsführer von »EL-Jana« klar, dass sein Team und er helfen wollten, als auch die Nachtpflege vor vier Wochen an den Start ging, wie Böhlke erzählt. »Wir haben eine moralische Verpflichtung gegenüber den Menschen«, sagt er. Kein Schoa-Überlebender sollte so sterben müssen wie die 91-jährige Wanda Objedkowa, die in einem Keller in Mariupol getötet wurde. Schon als Kind musste sie sich in der selben Stadt in einem Keller vor den Nazis verstecken, betont Böhlke.
An einem Freitag kam der Anruf von ZWST-Direktor Aron Schuster, am Sonntag kamen die ersten Menschen an. Schuster betont, dass die Schoa-Überlebenden »sehr gut und sehr schnell« in elf Bundesländern untergebracht werden konnten. »Es war eine ganz tolle Gemeinschaftsleistung der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege.« Insbesondere Einrichtungsleiterinnen und -leiter wie Thomas Böhlke hätten sich mit »unfassbarem Einsatz und Hilfsbereitschaft dieser Überlebenden angenommen«. Trotz der Belastungen durch die andauernde Corona-Pandemie stellten sich Einrichtungen in jüdischer und nichtjüdischer Trägerschaft dieser neuen Herausforderung.
Wie genau die größte Herausforderung aussieht, beschreibt Laura Rose, die Leiterin der Tagespflege, in einem Wort: Sprache. Vier russischsprachige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebe es, Rose selbst habe fast immer das Telefon in der Nähe, wenn sie schon längst zu Hause sei, um sprachlich auszuhelfen, falls nötig. Der Dank, den ihr Team und sie dafür von den Schoa-Überlebenden bekommen, ist zu groß für ein Wort. Er ist ein Lächeln, eine Sorge weniger, er ist das Gefühl, einen ruhigen Ort zu haben, eine Art Zuhause.
Versorgung Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, erläutert, wie die Versorgung der Schoa-Überlebenden funktioniert, die die Ukraine noch nicht verlassen konnten oder wollten. Etwa 70 Prozent der Schoa-Überlebenden wollten in der Ukraine bleiben, 30 wollten gehen. Die Zahlen würden sich aber etwas ändern, sagte Mahlo. »Seit über 20, 30 Jahren haben wir das häusliche Fürsorgeprogramm und haben eine Beziehung zu den Holocaust-Überlebenden vor Ort.«
Wenn man mit einem Angebot komme, zu evakuieren, brauche man das Vertrauen der Schoa-Überlebenden. Mit Hilfe des JOINT und der Hilfsorganisation Chesed konnten, beschreibt Mahlo, viele praktische Fragen beantwortet werden. »Wir sind sehr glücklich, dass sie hier in Sicherheit sind und sich in dieser Einrichtung und in der tollen Umgebung geborgen fühlen.«
»Vielleicht zeigt nichts so sehr wie das Schicksal dieser Holocaust-Überlebenden, wie bösartig der Zynismus ist, mit dem dieser Krieg von Putin begründet worden ist«, sagte Steinmeier nach seinem Gespräch mit den Schoa-Überlebenden. Er verwies darauf, dass Putin von einem angeblichen Kampf gegen den Faschismus und einer »Entnazifizierung der Ukraine« gesprochen habe. Die Hochbetagten müssten nun Schutz in Deutschland suchen, »ausgerechnet in der Stadt, wo der Holocaust geplant und organisiert wurde, hier in Berlin«.
Swetlana Sabudkina ist - für den Moment - glücklich. Sie möchte noch ein Foto machen: mit dem Bundespräsidenten. Dann sagt sie »Spasibo«.