Ein junges, frisches, pluralistisches Judentum mit putzmunter ausgelebten Traditionen wünscht sich Dieter Graumann. Im vergangenen Jahr haben die Gemeinden die Voraussetzungen geschaffen, damit die Wünsche des neuen Zentralratspräsidenten in Erüllung gehen. Noch nie nach der Schoa war die jüdische Infrastruktur so gut ausgebaut wie heute. Kindergärten, Lehrhäuser, Begegnungszentren, Synagogen und in Deutschland ausgebildete Rabbiner sind inzwischen Normalität.
Anfang Februar konnte die Duisburger Gemeinde die Kriterien erfüllen, um auch Unter-Dreijährige in ihrem Kindergarten aufzunehmen. Die Chemnitzer Gemeinde hat einen Hort für die Kleinen eröffnet und in Delmenhorst wurde eine Kindergruppe eingerichtet. Bad Segeberg konnte nach aufwendigem Umbau im Sidonie-Werner-Haus eine Tagesstätte für die Jüngsten einrichten. Im November hieß die Jüdische Gemeinde Hannover 40 Ein- bis Sechsjährige in ihrer Kita »Sternkinder« willkommen.
Angebot für die Jugend
Investitionen in die Zukunft, wie auch Hannovers Gemeindevorsitzender Michael Fürst betont. »Es ist wichtig, dass wir mit der Jugend arbeiten, denn sonst verlieren wir den Kontakt zu ihr.« Ein Manko bleibt: viele Kindertagesstätten bemängeln, dass es keine deutschsprachigen Materialien für die jüdische Kindererziehung gibt.
Daher versuchen jüdische Grundschulen, Kinderlehrhäuser und Jugendseminare die in den früheren Jahren begonnene Arbeit fortzusetzen. Kassel, Gelsenkirchen, Duisburg, Düsseldorf, Frankfurt und Wiesbaden, die sächsischen Gemeinden, Mecklenburg-Vorpommern aber auch alle anderen Gemeinden in Deutschland, machen ihren Kindern und Jugendlichen entsprechende Angebote. Sei es wie etwa die Beteiligung der Duisburger Gemeinde am Märchenwettbewerb oder die Aufführung einer Kinderoper in Dortmund.
Für die Jugendlichen ist ein Highlight die Jewrovision, in diesem Jahr ausgerichtet von der Synagogen-Gemeinde Köln. Ein Kraftakt, wie die Gewinner von 2009 wissen. 2010 gewann Berlin. Die jungen jüdischen Künstler nehmen ihren Auftritt dabei ebenso ernst, wie es auch die Mitwirkenden des Vorbildes beim Eurovision Song Contest tun. Auf jeden Fall aber sind es wichtige Treffen für Jugendliche.
Tanzen, sich kennenlernen und miteinander lernen können alles Altersgruppen bei den Limmud-Tagen. 400 junge Leute trafen sich im März zu 140 Workshops am Werbellinsee in der Schorfheide. Regional lud drei Monate später die Frankfurter Gemeinde zu diesem Wissensaustausch für orthodoxe und liberale Juden ein.
Wichtig ist bei all dem, das weiß vor allem der Jugendreferent des Landesverbandes Nordrhein, Gabriel Goldberg, die Vernetzung der Jugendlichen untereinander. Für seinen Landesverband hat er eine Form entwickelt, bei der eine Gemeinde beispielsweise zur Vorbereitung der Feiertage die Jugendzentren der anderen Mitgliedsgemeinden einlädt. Jede ist auf diese Weise mal Gast und mal Gastgeber.
Damit die Vernetzung auch bestehen bleibt, wenn die jungen Juden dem Jugendzentrum entwachsen sind, hat die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) in diesem Jahr ein neues Programm aufgelegt. Es soll die 18- bis 35-Jährigen ansprechen und lädt unter anderem zu einem koscheren Kochkurs ein. Er dient nicht nur dazu, zu lernen, wie Gerichte zubereitet werden, sondern erläutert die Regeln, was koscher ist. Nachumi Rosenblatt, im Jugendreferat der ZWST für den Bereich Freizeit und Seminare zuständig, hofft, in den nächsten fünf Jahren jungen Erwachsenen monatlich Angebote machen zu können – regional und überregional.
generation 30 plus
Doch was kommt danach? Die mittlere Generation der 35- bis 50-Jährigen gilt es bei der Stange zu halten. Der Übergang vom Studenten- ins Alltagsleben birgt die größte Gefahr für die Gemeinden. In diesem Alter gehen ihnen viele Mitglieder verloren. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagt Zentralratspräsident Graumann. Dabei haben es schon einige der jungen Leute vorgemacht. Alexander Sperling, Daniel Neumann, Gabriel Goldberg, Judith Neuwald-Tasbach, Michael Rubinstein, Patrick Marx tragen altbekannte Namen. Sie treten in die Fußstopfen ihrer Mütter und Väter. Doch noch sind sie zu wenige.
Bei den neuen Vorständen, die in diesem Jahr gewählt wurden, zeichnet sich noch kein großer Generationswechsel ab. Doch Jugend allein macht es nicht. Die Religion geht vielen abhanden, beklagt zum Beispiel Michael Rubinstein. Er ist von seinen Eltern in der Tradition geprägt, doch was ist mit den vielen jungen zugewanderten russischsprechenden Juden, die diese Prägung nicht mitbekommen haben? Immer wieder bemerken Gemeindevorsitzende, dass Feiern und Kultur nicht gleichzusetzen sind mit einer jüdischen Gemeinschaft. Chanukka mit russischen Liedern und Folklore, so ein Kritikpunkt, hat nichts mit dem jüdischen Lichterfest zu tun.
Aussenwirkung und Solidarität
Manchmal, so scheint es, wirkt das Jüdische mehr in die nichtjüdische Umwelt als in die eigene Gemeinde. Kulturtage allerorten zeugen davon, sei es in Chemnitz, in Stuttgart oder Worms, seien es die Jiddischen Musikwochen in Dresden oder Filmwochen in Saarbrücken und Düsseldorf. WIZO-Basare, Begegnungsveranstaltungen, Lehrhäuser, so wichtig sie sind und wie in Stuttgart oder Düsseldorf auch dem Trialog dienen, muss doch die Vermittlung der Religion für die jüdische Gemeinschaft an erster Stelle stehen, fordern die Gemeindevorstände. Dennoch ist auch diese Wirkung nach außen wichtig, zeigt sie doch die Solidarität der nichtjüdischen Öffentlichkeit mit der jüdischen Gemeinschaft. Bei WIZO-Basaren unterstützen sie gemeinnützige Einrichtungen. Nichtjuden stellen sich in eine Reihe mit der Gemeinde gegen Neonaziaufmärsche etwa in Dresden oder zeigen Mitgefühl wie bei dem Brandanschlag in Worms.
Toraeinbringung
Dennoch muss die Religion für die Gemeinschaft an erster Stelle stehen. Die Rahmenbedingungen sind vorhanden: Die Gemeinden in Braunschweig, Göttingen, Potsdam, Kiel, Pinneberg, Hamburg und Düsseldorf freuten sich über neue Torarollen. In Ulm sind die Planungen für eine neue Synagoge fortgeschritten. Die Osnabrücker Gemeinde eröffnete im Februar ihren Erweiterungsbau, die Erlanger Gemeinde fand ein neues Zuhause, ebenso die Herforder Gemeinde. In Hameln erfolgten der erste Spatenstich sowie das Richtfest. Nach vielen Jahren konnte Mainz seine neue Synagoge eröffnen, in Konstanz ist ein Gotteshaus in Planung, ebenso in Potsdam. Dort ist eine dritte Gemeinde entstanden. Nicht weil es so viele Juden in der brandenburgischen Landeshauptstadt gibt, sondern weil sie sich untereinander nicht verstehen. Am Bodensee sollen die Gemeinden möglichst durch das eine gemeinschaftliche Haus zusammenfinden. Denn auch Streit und Gerichtsprozesse prägten das Jahr 2010. Gegenseitige Vorwürfe, nicht Anerkennen von Wahlergebnissen, Nichtberücksichtigung bei der finanziellen Unterstützung von liberalen Gemeinden.
Trotz allem wirkt die Orthodoxie in Deutschland moderner denn je. Nicht nur, dass sich ihr Vorstand mehr und mehr verjüngt, ihr Angebot, jungen Juden, die einen jüdischen Vater haben, beim Übertritt ins Judentum verstärkt beiseite zu stehen, kann dem Judentum in Deutschland zu mehr Stärke verhelfen. Helfen soll auch das SchatzMatz-Programm der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, das finanzschwachen Gemeinden zu Rabbinern, Kantoren und Vorbetern verhelfen kann.
Rabbiner-Ordinationen
Eine wesentliche Stärkung hat das Judentum in Deutschland durch die Ordination von fünf Rabbinern aus den eigenen Reihen erfahren, die in eigenen Lehranstalten ausgebildet wurden. Mosche Baumel und Shlomo Afanasev, Absolventen des orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin, wurden Ende August in Leipzig ordiniert. Im November erhielten Konstantin Pal, Boris Ronis und Alina Treiger Studenten des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs ihre Smicha in Berlin. Vier von ihnen bleiben in Deutschland und wollen den Gemeinden Potsdam, Erfurt, Berlin und Oldenburg zu dem frischen lebendigen Judentum verhelfen, das Dieter Graumann einfordert.
Die jüdische Sozialarbeit hat eine deutliche Aufwertung erfahren. 20 Absolventen der Erfurter Fachhochschule, die zusammen mit der ZWST ein Studium angeboten hatte, erhielten in diesem Jahr ihre Abschlussurkunden.
Jubiläen des Jahres
Die vielen Jubiläen dieses Jahres.: 200 Jahre Reformjudentum, 125 Jahre Chemnitzer Gemeinde, 100 Jahre Westendsynagoge Frankfurt, 90 Jahre WIZO, 60 Jahre Zentralrat der Juden, 50 Jahre Gemeinde am Grindelhof in Hamburg, 50 Jahre Zionistische Jugend in Deutschland, 40 Jahre Nelly-Sachs-Seniorenheim in Düsseldorf, dürfen nicht über die Aufgaben für das kommende Jahr hinwegtäuschen. Noch nicht abschließend geklärt sind etwa die Anerkennung der im Ausland erworbenen Hochschulabschlüsse und die Rentenfragen für die Zuwanderer.
Die jüdische Gemeinschaft droht wie vor der Zuwanderung russischsprachiger Juden zu überaltern. Auch 2010 kamen deutlich weniger Kinder zur Welt als Menschen starben. »Wir sind mit der inneren Aufgabe groß geworden, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland unter Beibehaltung der Tradition zukunftsfähig zu machen«, beschreibt Daniel Neumann die Motivation seines Engagements in Hessen. Und nicht nur zu fragen, »was bekomme ich, sondern was kann ich tun?«, wie es Vizepräsident Josef Schuster fordert. Viele Voraussetzungen für ein lebendiges pluralistisches Judentum wurden 2010 geschaffen. Jetzt gilt es diesen Weg weiterzugehen.