Die ehemalige Guggenheim-Villa im schicken Hamburger Stadtteil Harvestehude kann jedermann besichtigen. Man muss die Kindertagesstätte, die heute dort untergebracht ist, anrufen und einen Termin vereinbaren. Früher oder später wird man in den Keller geführt, der eine Besonderheit ausweist: einen verborgenen Raum. Eine Kammer, die keine Tür, kein Fenster oder einen sonstigen Zugang hat. Klopft man gegen die Wand, schallt es hohl zurück.
Für den Hamburger Filmemacher Jens Huckeriede ist dieser abgeschottete Raum Ausgangspunkt seines Filmes Ab nach Rio. Er dokumentiert seine Suche nach den Lebensspuren des Ehepaares Wilhelm und Herta Guggenheim und ihrer Kinder Marianne, Heinrich und Fritz. Heinrich Guggenheim war ein erfolgreicher Unternehmer im Biergewerbe – bis die Nazis kamen.
Flucht Die älteren beiden Kinder gelangten 1938 mit dem letzten Kindertransport von Hamburg nach England; die Eltern und Sohn Fritz konnten sich buchstäblich in allerletzter Minute im März 1941 nach Brasilien in Sicherheit bringen. Dort fand Jahre später die Familie wieder zusammen. Aber es wurde nicht mehr so wie einst. Vom Gefühl eines anhaltenden Fremdseins erzählt eindrücklich die Enkelin Ivoné Simon, die Huckeriede in Brasilien ausfindig machte: So wie ihre Mutter Marianne sich nie als Brasilianerin, aber auch nicht mehr als Deutsche fühlte, hat auch sie bis heute keine Heimat gefunden. Haben ihre Großeltern in dem verschlossenen Raum vielleicht irgendetwas für sie hinterlassen?
Huckeriede hätte es sich einfach machen und mit ein paar Hammerschlägen die Wand einreißen können, um zu schauen, ob und was sich dahinter verbirgt. Doch den Filmemacher interessiert der Moment des Ungeklärten und der Zustand des Unzugänglichen, treiben ihn doch zwei Fragen an: Wie können wir uns zukünftig mit der Schoa auseinandersetzen und wie können wir besonders nachwachsende Generationen erreichen, wenn demnächst der letzte Zeitzeuge verstorben sein wird? Und: Wie gehen wir damit um, dass viele Jugendliche heute aus anderen Ländern stammen und sie nicht mehr automatisch an eine mögliche Schuld oder Mitschuld ihrer Eltern und Großeltern denken?
Und so hat er es nicht nur bei seinem eindrücklichem Film belassen: Er hat im Keller der Villa einen Arbeitsraum eigens für Jugendliche eingerichtet. Hier gibt es die kopierten Akten, es stehen seine Filme und Arbeitsmaterialien zur Verfügung. Er will dazu animieren, sich künstlerisch mit dem Lebensweg der Guggenheims wie mit dem verborgenen Raum als Symbol für verschwundenes jüdisches Leben auseinanderzusetzen.
Entsprechend finden hier regelmäßig Kunstausstellungen statt.
Ausstellung Aktuell zeigen die Künstlerinnen Verena Jacobs, Ina Schmalke und Claudia Stapelfeld mit »Plötzlicher Raum« filigrane Zeichnungen, präsentieren sie Zeichenbücher unter Glas, so dass man sie nicht aufschlagen kann. »Die Wände in diesem Keller hier erzählen ohne Ende, von daher wollten wir so sparsam wie möglich arbeiten«, sagt Ina Schlafke, die auch als Kunstlehrerin arbeitet. »Wir müssen den Jugendlichen einen eigenen Zugang ermöglichen, sie müssen sich ihre eigenen Fragen stellen dürfen.« Und sie ist überzeugt, dass das künstlerische Arbeiten gerade Jugendlichen einen Weg der Vermittlung zwischen harten historischen Fakten und den eigenen, emotionalen Empfindungen ebnen kann.
Huckeriede hat ganz in diesem Sinne schon ein nächstes Projekt initiert: Er hat mit Jugendlichen aus Hamburg-Altona und aus der polnischen Kleinstadt Koszalin einen Workshop in der Gedenkstätte des einstigen KZs Neuengamme durchgeführt, an dessen Ende eine Theaterperformance stand: »Sound in the silence«, so der Titel seiner filmischen Dokumentation. Mögen die Menschen auch verschwinden, der Ort, an dem sie lebten, bleibt. Und es ist unsere Aufgabe, ihn zum Sprechen zu bewegen.
Kontakt:
Kindertagesstätte Sternipark (ehem. Guggenheim-Villa), Tel. 040/ 600 88 38 88, Rothenbaumchaussee 121, Hamburg-Harvestehude
Termine:
Die Ausstellung »Plötzlicher Raum« ist dort noch am Samstag, den 31.8. von 16 bis 18 Uhr zu sehen sowie nach Vereinbarung.
Der Film »Ab nach Rio« kann für Vorführungen als DVD oder Blue Ray über das Medienzentrum Die Thede ausgeliehen werden: www.diethede.de oder 040 899 11 61.
Der Dokumentarfilm »Sound in the silence« hat Premiere am Sonntag, den 8. September, 11 Uhr, Abaton Kino, Hamburg.
Weitere Termine: So., 15.9., 11 Uhr und Mo., 16.9., 17 Uhr, jeweils Abaton Kino.