Gertrud Käthe Chodziesner gehört unter ihrem Pseudonym Gertrud Kolmar zu den wichtigsten deutschsprachigen jüdischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Sie wurde jedoch nie so bekannt wie Rose Ausländer, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler oder Nelly Sachs. Ihr 130. Geburtstag am 10. Dezember war Anlass für eine Würdigung in der Reihe »Zwiesprachen«, welche die Münchner Volkshochschule und das IKG-Kulturzentrum seit dem Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« kontinuierlich gemeinsam fortsetzen.
Prädestiniert, diesen Vortrag zu halten, war Friederike Heimann, die mit einer Arbeit über Kolmar bei dem Literaturwissenschaftler Alfred Bodenheimer, seit 2010 Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Universität Basel, promovierte.
Das lyrische Ich hinter Rollengedichten
Dorothee Lossin, Leiterin des Programmbereichs Literatur und Film bei der Münchner Volkshochschule, unterstrich in ihrer Einführung den besonderen Ton der Gedichte von Gertrud Kolmar, sprach von deren »Intensität«, vom Erscheinen ihres lyrischen Ichs hinter Rollengedichten, »hinter der Maske von Kröten, von Eidechsen, Salamandern, einer Lumpensammlerin – der Blick geht ins Abseitige, fühlt sich ein in das ganz Andere fremder Welten«.
Damit gab sie der Biografin Heimann eine Steilvorlage, in der sich persönliche und weltgeschichtliche Katastrophen so verbanden, dass Kolmars Werk nur mit Verzögerung sichtbar wurde, 1947 mit der ersten Ausgabe des Gedichtzyklus »Welten«, 1994 mit einer Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 1997 mit dem Erscheinen ihrer Briefe, herausgegeben von Johanna Woltmann.
Nicht einmal unter ihrem Geburtsnamen durfte sie publizieren. Ihr Vater, ein angesehener Anwalt in Berlin, hielt das für unangemessen. Also wählte sie den Namen »Kolmar«, wie die Stadt Chodziesen in der damaligen preußischen Provinz Posen seit 1878 hieß – Herkunftsort der Familie väterlicherseits. Übrigens war ihre Mutter Elise die Schwester von Walter Benjamins Mutter Pauline. So rollte Friederike Heimann nach und nach das Leben der Dichterin Gertrud Kolmar auf, die als Sprachlehrerin, Erzieherin, Betreuerin erst der kranken Mutter, dann des alt gewordenen Vaters arbeitete.
Ein Schwangerschaftsabbruch nach einer damals unmöglichen Liaison, der nie mehr erfüllte Kinderwunsch, die zunehmende Beschäftigung mit dem Jüdischen, ihr Einfinden in ein unabwendbares Schicksal, das in Zwangsarbeit mündete und mit der Deportation nach Auschwitz am 2. März 1943 sein Ende fand – all dies reflektierte Friederike Heimann immer wieder mit Auszügen und schließlich dem Gedicht »Die Jüdin« aus dem Verszyklus Weibliches Bildnis (1927–1932).
Friederike Heimann: »In der Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar«. Jüdischer Verlag/Suhrkamp, Berlin 2023,
463 S., 28 €