Frau Kaufmann, Sie wurden vor 33 Jahren in Workuta geboren und wuchsen in Sankt Petersburg auf. 2012 kamen Sie nach Deutschland und waren die vergangenen drei Jahre Gast in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Was fasziniert Sie als Nichtjüdin an der Gemeinde?
Als ich in Sankt Petersburg studierte, sah ich auf der Straße einen Mann mit Pejes. Ich war völlig fasziniert. Bis dahin hatte ich noch keinen orthodoxen Juden gesehen. Ich folgte ihm und bekam so mit, dass es in Petersburg ein jüdisches Viertel gab. Die Jungenschule fand ich beeindruckend, und ich durfte tatsächlich einen Jungen ein halbes Jahr lang fotografisch begleiten. Das wurde meine Diplomarbeit an der Fakultät für Dokumentarfotografie.
Das erklärt das allgemeine Interesse an jüdischem Leben, aber warum wurde daraus auch das enge Miteinander in der Jüdischen Gemeinde in Erfurt?
Es gab eine glückliche Fügung. Die UNESCO-Beauftragte für das jüdische Weltkulturerbe, Maria Stürzebecher, und ihr Mann Ivo Dierbach meinten, ich müsse unbedingt die Jüdische Gemeinde kennenlernen. Was ich dann dort erlebt habe, hat mich sehr geprägt. Ich, die ich immer schief angesehen wurde, sobald ich auch nur anfing, Russisch zu sprechen, war mit meiner Sprache durchaus willkommen. Und auch das Foto, das ich von dem jüdischen Jungen aus Sankt Petersburg gemacht hatte, trug zu einem ersten guten Eindruck bei.
Hatten Sie damals schon die Idee für eine Ausstellung?
Nein. Wir haben uns einfach zusammengesetzt und Tee getrunken. Ich wurde zu Chanukka eingeladen. Sie sagten: »Du bist zwar nicht jüdisch, aber es macht auch nichts, dass du Christin bist. Wir sind alle fremd.« Das hat mich wirklich inspiriert. Wenn Menschen gut sind, gibt mir das Energie. Ich gehörte ganz selbstverständlich dazu. Irgendwann habe ich begonnen, zu fotografieren. Aber ich habe signalisiert, dass ich nicht der Bilder wegen bei ihnen bin. Dann, vor gut einem Jahr, entwickelten wir die Idee von der Ausstellung – und zwar im Rahmen des Achava-Festivals. Martin Kranz als Intendant hat mich unterstützt und gefördert.
Sie nennen die Ausstellung »Ein Jahr mit dem Stern«. Das erinnert auch an jene Zeit, in der Juden in Deutschland den Davidstern tragen mussten.
Natürlich meine ich den Davidstern als Symbol des Judentums. Aber auch den dritten Stern am Himmel, der zeigt, dass der Schabbat zu Ende geht. Und einige der Menschen, die ich porträtiert habe, haben die Zeit miterlebt, in der die Nazis den Stern missbraucht haben, und sie zwangen, ihn an ihrer Kleidung zu tragen.
Wie war die Zusammenarbeit mit den Menschen, die Sie mit der Kamera porträtiert haben?
Ich habe mir sehr viel Zeit genommen und die Menschen kennengelernt. Der Mensch ist doch mehr als der Jude oder der Russe. Er ist die Geschichte, die sein Leben bestimmt hat und weiterhin bestimmt. Darüber haben wir gesprochen. Und erst dann habe ich fotografiert. Ganz tief mit meiner Seele. Ich bekam Vertrauen geschenkt, weil ich ehrlich war. Ich wusste, ich möchte die Personen schwarz-weiß fotografieren, und habe die Menschen gebeten, schwarze Kleidung zu tragen. Weil ich den Fokus allein auf ihre Gesichter lenken wollte.
Hat sich Ihr Verständnis für das Judentum durch dieses Projekt geändert?
Ja, auf jeden Fall. Ich hatte, als ich nach Deutschland kam, all meine Freunde in Petersburg zurückgelassen. Jeder außerhalb meiner kleinen Familie, meinem Mann Martin und unserem Sohn Matvey war mir fremd. Niemand hat zu mir gesagt, komm morgen zu uns. Aber in der Gemeinde ist das passiert. Sie ist meine Familie geworden.
Sie tragen fast immer einen Hut. Ist das sozusagen die Kippa für Frauen?
Nein. Ich habe irgendwann diesen Hut gekauft. Und als ich ihn aufsetzte, fühlte ich mich beschützt. So stehe ich nicht zu nackt vor den Menschen. Ich fühle mich erst dann vollständig, wenn ich Hut und Kamera dabei habe.
Mit der Fotografin sprach Esther Goldberg.
Die Ausstellung ist bis zum 30. September in der Erfurter Kunsthalle zu sehen.