Während Lehrerinnen und Lehrer seit einigen Wochen eine Zeugniskonferenz nach der anderen abhalten, fragen sich Eltern vor allem: »Welche Schule ist die richtige für mein Kind?«. Schülerinnen und Schüler hingegen bangen um einen Platz an einem Gymnasium und hoffen auf gute Zeugnisse. Besonders begehrt sind bei Eltern die jüdischen Schulen. »In der Grundschule und im Gymnasium führen wir teilweise bereits Wartelisten«, berichtet Noga Hartmann, Direktorin der I. E. Lichtigfeld-Schule, einer Privatschule in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Sie bietet ein Bildungsangebot von der ersten Klasse bis zum Abitur an.
»Viele wollen zu uns kommen, das finde ich großartig. Die Schülerzahlen wachsen, mittlerweile lernen mehr als 700 Kinder bei uns.« Doch die räumlichen Kapazitäten seien inzwischen ausgeschöpft. In Hessen ist der Übergang von der vierten in die fünfte Klasse besonders entscheidend. Unabhängig von der Empfehlung der Lehrkräfte können Eltern dort über den weiteren Bildungsweg ihres Nachwuchses entscheiden.
»Kinder, die unsere Grundschule besuchen, werden in aller Regel von uns in die 5. Klasse aufgenommen«, so die Schulleiterin. Eltern von Schülern, die an anderen Schulen lernen, müssen die Zeugnisse ihrer Kinder einreichen und werden zu einem Gespräch eingeladen. »Dabei möchten wir mehr über die Motivation und Ziele des Kindes und der Eltern erfahren«, erklärt Hartmann. »Dann vereinbaren wir Hospitationszeiten von einer Woche. So lernt das Kind unsere Schule von innen kennen.«
Auch die Lehrkräfte berichten über ihren Eindruck. Anschließend finden noch einmal Gespräche mit Eltern und Schülern statt, in denen alle ihre Eindrücke teilen können, und es wird entschieden, ob das Kind zur Schule passt und sich dort wohlfühlen könnte. »In den allermeisten Fällen möchten die Familien den Schulplatz unbedingt. Ich finde, dieses Verfahren ist fair und auch transparent«, sagt Hartmann.
Kommunikationsfähigkeit helfe, einen guten Eindruck zu erwecken
»Bei uns gibt es keinen Durchschnitt, den wir erwarten – aber eine (eingeschränkte) Grundschulempfehlung für das Gymnasium muss vorhanden sein. Und der Eindruck beim Aufnahmegespräch zählt auch«, meint Michael Anger, Direktor des Albert-Einstein-Gymnasiums, dessen Träger die Jüdische Gemeinde Düsseldorf ist. Kommunikationsfähigkeit helfe, einen guten Eindruck zu erwecken. »Das Zeugnis und die Hobbys bespreche ich als Grundlage locker mit den Kindern. Wenn ich nach dem Gespräch aber erst einmal mein Büro wieder aufräumen muss, ist unsere Schule nicht unbedingt die richtige.«
Als Gymnasium würden sein Team und er Wert auf eine »gesunde Leistungsbereitschaft« legen. Zusätzlich wird ein Sozialverhalten erwartet, das zu »unserem Leitbild, zu unserer Hausordnung und den Werten des Judentums passt. Wir sind wie eine Familie, in der man sich mit Respekt und Offenheit begegnet«. Außerdem ist Deutsch die Haussprache – das sei mittlerweile ein wichtiges Thema, da manche Familien aus der ehemaligen Sowjetunion Sprachkompetenzen zu Hause vernachlässigen und so den Bildungserfolg wie auch die gesellschaftliche Integration ihrer Kinder gefährden würden. »Wir stehen für das gelebte Judentum. Die Bräuche und Werte sind hier täglich sichtbar. Dazu kommt eine koschere Schulverpflegung.« Er hätte wieder ein etwas stärkeres Interesse an der Schule spüren können.
Als eine Art »Safe Space« für jüdische Kinder und Jugendliche beschreibt Aaron Eckstaedt die Schulen
Das hat auch Aaron Eckstaedt beobachtet. Seit dem 7. Oktober 2023 kommen mehr und mehr jüdische Schülerinnen und Schüler, da sie an öffentlichen Schulen bisweilen »unerfreuliche oder auch krass judenfeindliche Dinge erleben«, so der Direktor des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn und der Integrierten Sekundarschule Rabbinerin-Regina-Jonas-Schule in Berlin. »Steigt der äußere Druck, so hält man intern besser zusammen und reflektiert auch die eigene Situation mehr. Daraus lernen wir.«
Als eine Art »Safe Space« für jüdische Kinder und Jugendliche beschreibt er die Schulen. Aber sie seien kein Ghetto, denn »zu uns kommen ja sehr bewusst auch viele nichtjüdische Schülerinnen und Schüler«. Weiter meint er: »Wir sind eine Schule, die von der familiären Atmosphäre in Schule und Gemeinde lebt. Und seit wir zwei Schulen an unserem Standort haben, neben dem Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn auch die Rabbinerin-Regina-Jonas-Schule als integrierte Sekundarschule, sind natürlich unsere Schülerzahlen gewachsen.« Anmeldungen können ab dem 1. Februar eingereicht werden. »Wir hoffen auf Schülerinnen und Schüler, die Lust haben, selbstständig zu denken, und Spaß daran haben, Fehler zu machen. Das meine ich durchaus ernst«, sagt Eckstaedt.
Jüdische Schule bedeutet auch, das »Wir« zu stärken
Jüdische Schule bedeute auch, das »Wir« zu stärken. »In diesem Sinne erwarten wir die Bereitschaft, sich in unsere Gemeinschaft einzubringen und an den großen Aufgaben des Judentums mitzuwirken: ein Mensch zu sein und die Welt im Sinne von Tikkun Olam etwas ›gesünder‹ zu machen.« All das thematisiere er auch in den Aufnahmegesprächen, und das sei letzten Endes wichtiger als eine Eins in Deutsch oder Mathematik.
Wer diese Schulen besuchen möchte, muss auch dezidiert Lust haben, Hebräisch zu lernen und am jüdischen Religionsunterricht teilzunehmen. Zu den Anmeldeunterlagen gehöre neben der Förderprognose der Grundschule und einem Notendurchschnitt von bis zu 2,2 auch ein Motivationsschreiben. Durch die Schulgesetzänderung in Berlin darf man im Gegensatz zu früher ein Gymnasium nur mit einem solchen Zeugnisdurchschnitt und besser besuchen.
Das Joseph-Carlebach-Bildungshaus lebt den Geist seines Namensgebers
Im vergangenen Schuljahr gab es mehr Anfragen für Schulplätze, auch von Familien, die aus Israel nach Deutschland gekommen sind, sagt Wiebke Schirrow, Schulleiterin des Joseph-Carlebach-Bildungshauses, dessen Träger die Jüdischen Gemeinde in Hamburg ist. Seit dem Tag der offenen Tür führen sie und ihr Team viele Anmeldegespräche für die erste und fünfte Klasse sowie für die Vorschule. Daneben gebe es auch regelmäßig Anfragen für Quereinsteiger in allen Jahrgangsstufen. Sie seien mit dem bisherigen Verlauf des Anmeldeverfahrens zufrieden.
»Wir sind eine staatlich anerkannte Schule, und damit sind die allgemeinen schulischen Rahmenbedingungen natürlich Grundlage der Arbeit, die konfessionelle Gebundenheit aber eine ebenso wichtige Säule. Nicht nur von den Schülerinnen und Schülern, sondern auch von den Elternhäusern erwarten wir eine Offenheit und Identifikation mit der jüdischen Tradition und Identität.«
Das Joseph-Carlebach-Bildungshaus lebe den Geist seines Namensgebers: eine moderne jüdische Erziehung sowie die Wahrung jüdischer Werte im Einklang mit einer offenen und toleranten Weltanschauung. Joseph Carlebach (1883–1942) prägte vor der Schoa die damalige reformpädagogische Ausrichtung der Schule und sei ein herausragender Pädagoge gewesen. »Wir leben sein pädagogisches Erbe.« In der Oberstufe bietet die Schule ein gesellschaftliches Profil an, das als Schwerpunktfächer Geschichte, Politik und Kunst umfasst. »Das ist unser ›Carlebach-Profil‹.«
Auch für Lehrkräfte sei das Bildungshaus attraktiv. »Wir freuen uns über regelmäßige Anfragen und das Interesse an unserer Schule. Wir arbeiten sehr teamorientiert an der Schulentwicklung und freuen uns auch über interessierte Kolleginnen und Kollegen, die aus dem Hamburger Staatsdienst zu uns kommen«, sagt Schirrow.
Als Arbeitgeber sei die Jüdische Gemeinde Düsseldorf ein interessanter und guter Ort, meint Anger. »Uns als Gymnasium zeichnet aus, dass wir ein junges und engagiertes Kollegium haben, das viele neue Lehrerinnen schnell integriert. Die Möglichkeiten, sich einzubringen, sind sehr groß, und kulturell erlebt man eine große Bereicherung, wenn man sich darauf einlässt.« Leider habe sich die Situation nach dem 7. Oktober 2023 verändert. Nichtjüdische Schülerinnen und Schüler sind nicht so interessiert, und es gebe weniger Bewerbungen von Lehrkräften, dafür höhere Anforderungen an Sicherheitsthemen und wenig Kenntnis und Verständnis in der Mehrheitsgesellschaft. »Wir machen das Beste daraus und sind für unsere Schüler ein ganz wichtiger Ort – noch wichtiger als vor dem 7. Oktober«, sagt Anger.
»Personell sind wir sehr gut ausgestattet und haben vor allem in den vergangenen Jahren viele junge Kolleginnen und Kollegen im Referendariat bei uns ausgebildet«, meint Eckstaedt. Die Schule brauche innovative Lehrkräfte, die von den Universitäten kommen – so könnte das hohe Niveau gehalten werden. In Frankfurt sind derzeit zehn Stellen für Lehrkräfte an der I. E. Lichtigfeld-Schule ausgeschrieben. »Ich freue mich, dass wir Bewerbungen von jungen Menschen erhalten, die interessiert sind, gerade an unserer Schule mit dem jüdischen Profil der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zu arbeiten«, sagt Noga Hartmann.
Obwohl die Familie nicht jüdisch ist, lernt sein Sohn Hebräisch und kennt sich nun im Judentum gut aus
Jan Fleischhauer, dessen Sohn die Sinai-Ganztags-Grundschule in München besucht, bekam von einer Freundin die Empfehlung für diese Schule. Denn diese bietet eine Betreuung von 8 bis 15.30 Uhr, die die Familie dringend braucht. »Aber auch kleine Klassen sind ein Argument.« Obwohl die Familie nicht jüdisch ist, lernt sein Sohn Hebräisch und kennt sich nun im Judentum gut aus. Die Grundschule ist in der Trägerschaft der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
»Das Privileg, vom jüdischen Kindergarten weiter in die Grundschule und später ins Gymnasium zu kommen, wird für mich stets von unschätzbarem Wert sein«, sagt Zoe Schirman aus Frankfurt. »Dadurch, dass meine Lehrerinnen und Lehrer mir zeigten, dass ich mich in der Schule im Hinblick auf meine jüdische Identität wohl und stolz fühlen darf, kann ich dies auch heute – nicht nur in dieser kleinen familiären Welt, sondern auch außerhalb«, so die ehemalige Schülerin, die vor einem Jahr ihr Abitur absolvierte.