Porträt der Woche

»Das alles bin ich«

Anna Tabak ist Juristin und will Oberbürgermeisterin von Augsburg werden

von Katrin Diehl  18.03.2020 17:07 Uhr

»Ich stehe jeden Samstag in der Fußgängerzone, spreche mit Leuten, beantworte E-Mails«: Anna Tabak (33) lebt in Augsburg.

Anna Tabak ist Juristin und will Oberbürgermeisterin von Augsburg werden

von Katrin Diehl  18.03.2020 17:07 Uhr

Wenn ich dann doch einmal ein bisschen jammere wegen der vielen Arbeit und wegen des ganzen Stresses, dann kommt natürlich prompt die Antwort: »Du hast das ja nicht anders gewollt.« Und im Endeffekt stimmt das ja auch. Trotzdem. Die letzten Wochen vor der bayerischen Kommunalwahl sind mir schon an die Substanz gegangen.
Und auch davor – dieser Spagat zwischen Beruf und Wahlkampf war eine richtige Herausforderung.

Plakate Aber, ja, es stimmt – ich habe es nicht anders gewollt. Und ja, politisches Engagement ist und bleibt meine Leidenschaft. Also ist es nur folgerichtig, was daraus entstanden ist und was die Plakate in der ganzen Stadt unübersehbar ankündigen: Ich bin angetreten, um am 15. März in den Stadtrat zu kommen und Oberbürgermeisterin von Augsburg zu werden.

Tatsächlich kann man sagen, dass ich die Hälfte meines Lebens kommunalpolitisch aktiv bin. Mit 16 Jahren habe ich damit begonnen und dies auch während meines Jurastudiums fortgesetzt. Und auch danach ließ mich die Politik nicht los. Schon in der Schule war Geschichte und damit auch Politik immer mein Lieblingsfach. Und als mich eines Tages ein Bekannter zu einer politischen Veranstaltung mitnahm, habe ich gleich gespürt: »Das ist was für mich!«

In der Ukraine besuchte ich einen orthodoxen Kindergarten, obwohl wir säkular lebten.

Ich mag das Organisatorische, das hinter allem steht. Und ich mag es, mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tun zu haben – Menschen, die man andernfalls vielleicht nie kennenlernen würde.

Es kann gut sein, dass das so ein »Migrationsding« ist von Menschen wie mir, die eine Auswanderungsgeschichte mitbringen, die einmal ganz neu irgendwo angekommen sind, ganz neu anfangen mussten. Man sucht den Kontakt, erarbeitet sich Beziehungen und Netzwerke, will in der Gemeinschaft aufgehen, die neue Gesellschaft genau kennenlernen – und wieder Wurzeln schlagen.

FAMILIE Meine Familie ist 1997 aus Charkiw in der Ukraine nach Deutschland gekommen. Ich war damals zehn Jahre alt. Die erste Station nach drei langen Tagen Fahrt war Nürnberg, waren die dortigen Grundig-Türme, wo wir zusammen mit all den anderen untergekommen sind. Nach Nürnberg sind wir dann ziemlich schnell in Augsburg gelandet.

Ich erinnere mich auch noch gut an die »Achtung! Achtung!«-Durchsagen, die meine Großeltern, die ja noch zur Kriegsgeneration gehören, anfangs in argen Schrecken versetzt haben.

Ich bin von beiden Seiten durch und durch jüdisch. In der Ukraine bin ich, obwohl wir säkular gelebt haben, in einen Kindergarten gegangen, in dem Orthodoxie praktiziert wurde. Ich wusste also von Anfang an, dass ich jüdisch war. Ein passendes Empfinden zu dieser Zuordnung wollte sich trotzdem nicht bei mir einstellen.

Ich habe schnell gelernt, habe mich eingelebt, habe mich integriert.

Erst hier in Deutschland habe ich irgendwann – da mag ich etwa 15 Jahre alt gewesen sein – begonnen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Wie es ist, zur Schule zu gehen, ohne die Sprache dort zu verstehen, habe ich bis heute nicht vergessen. Aber ich habe schnell gelernt, habe mich eingelebt, habe mich integriert.

REISEN In der 11. Klasse dann entschloss ich mich, ein Auslandsjahr in den USA einzulegen, und zwar bei meinem Onkel, bei dessen Familie und vor allem bei meiner Oma. Und da habe ich registriert, dass man dort Judentum ganz anders lebt. Da ist man stolz darauf, trägt den Davidstern auf dem Rucksack oder als Anhänger an einer Kette.

Meine Cousine war es dann auch, die mir von Taglit erzählte, und dass es weltweit möglich ist, da mitzumachen. »Weltweit?«, habe ich ungläubig gefragt. »Ja, weltweit«, hat sie geantwortet. Ich konnte es kaum glauben. »Auch in Deutschland?«, habe ich nachgehakt. »Auch in Deutschland«, hat sie erwidert. Und da habe ich meinen Kumpel und meine beste Freundin gepackt, und wir sind 2009 nach Israel gegangen.

Das war für mich so etwas wie ein Startschuss. Ich habe danach an vielen Seminaren, unter anderem der Jewish Agency, teilgenommen. Bei Taglit bin ich vor zwei Jahren Madricha geworden. Und natürlich reiste ich immer mal wieder nach Israel.

Es nichts bringt, immer nur zu meckern, wenn einem etwas nicht passt, man muss aktiv werden. Also wurde ich aktiv.

Ich liebe dieses Land. Es ist fest veran-kert in meinem Kopf. Israel vermittelt mir das Gefühl von Sicherheit, auch wenn ich die Politik dort einigermaßen kritisch sehe. Informationen, was dort gerade so läuft, hole ich mir weniger aus den Medien als von Freunden, Bekannten und Verwandten, die dort leben.

Alleine gereist bin ich also schon recht früh und auch gar nicht wenig. Meine Eltern und Großeltern fanden das in Ordnung, haben das weder forciert noch verhindert. Sie wussten natürlich auch, dass ich bei Reisen, hinter denen eine jüdische Organisation steht, immer und überall schnell Kontakt finden würde und ich da auch sicher war. Ich habe mir von solchen Reisen auch oft etwas Kleines, Jüdisches mitgebracht. Zur Erinnerung.

WAHLKAMPF Vor allem aber bin ich irgendwann auch wirklich hier in der Gesellschaft, in Deutschland, in Augsburg angekommen. Meine Neugierde und mein Interesse an gesellschaftspolitischen Prozessen sind immer weiter gewachsen.

Dazu kam meine Überzeugung, dass es nichts bringt, immer nur zu meckern, wenn einem etwas nicht passt, sondern dass man aktiv werden muss. Also wurde ich aktiv. Seit sechs Jahren trete ich politisch richtig in Erscheinung. Der vergangene Wahlkampf war der erste, den ich mitgemacht habe, damals noch aus der »zweiten Reihe«, wie man sagt. Das war 2014 bei der letzten Kommunalwahl.

Später habe ich einen Verein mitgegründet, wurde dessen Vorsitzende und bin das bis heute geblieben. Der Verein heißt »WSA«, das Kürzel steht für »Wir sind Augsburg«. Als dessen Vertreterin führe ich jetzt auch Wahlkampf, dieses Mal von der vordersten Reihe aus, und das ist natürlich schon noch einmal etwas anderes. Ich stehe jeden Samstag in der Fußgängerzone, rede mit Leuten, gebe Interviews, beantworte ohne Ende E-Mails und Nachrichten über Social Media. Manche sagen zum Scherz, »WSA« stehe für »Wir sind Anna«.

Zehn Jahre lang war ich Parteimitglied in der CSU. Aber so eine Partei hat natürlich den großen Nachteil, dass sie einem Dogma unterliegt. Das ist einfach so. Man muss als Partei mit München und Berlin konform gehen, auch wenn Augsburg da bei gewissen Problemstellungen vielleicht ganz andere, individuelle Lösungen braucht.

Als Bürgervereinigung sind wir durch und durch basisdemokratisch.

Wir als Bürgervereinigung hingegen sind nur Augsburg verpflichtet, wir sind durch und durch basisdemokratisch. Bei uns geht es nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben. Wir können uns auch mit speziellen Dingen wie der Ampel an der nächsten Straßenecke, Kitas oder Verkehrsfragen beschäftigen. Gerade die sind es ja oft, die die Menschen am meisten bewegen.

Vor ein paar Wochen war ich hier in der Jüdischen Gemeinde. Ich kenne da natürlich viele Leute. Meine Oma ist dort fest eingebunden. Ich habe nachgefragt, welche Erwartungen die Gemeindemitglieder an die Kommunalpolitik haben. Wir haben natürlich auch über die Sicherheit der Synagoge gesprochen, für die unbedingt etwas getan werden muss und für die auch bereits einiges getan wird. Was für eine Schande, dass im Jahr 2020 über die Sicherheit eines Gotteshauses nachgedacht werden muss!

IDENTITÄT Außerhalb trage ich mein Judentum wirklich nicht vor mir her. Ich halte das nicht für nötig. Es ist ein Teil von mir, aber nicht der einzige, der mich ausmacht. Ich mache Politik, arbeite in einem Unternehmen als Leiterin für Personal und Recht, bin im Vorstand der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Augsburg-Schwaben aktiv und engagiere mich gerne für die Augsburger und Augsburgerinnen und ihre Stadt. Das alles bin ich.

Ich mag Augsburg. Ich mag seine Größe. Knapp unter 300.000 Einwohner – das ist ja nicht klein. Und wir haben alles, was man für ein angenehmes Leben braucht. Wir haben die ganze Infrastruktur, wir haben kulturelle Angebote, alle möglichen Geschäfte, Cafés.

Wir sind Friedensstadt sowie Brecht- und Mozartstadt, sind Unesco-Welterbe. Andererseits ist Augsburg gerade noch klein genug, um viele Leute persönlich zu kennen. Ein großer Vorteil sind außerdem die kurzen Wege, wenn man Dinge zu erledigen hat. Und sollte ich wirklich einmal etwas vermissen, kann ich ja nach München fahren.

Ich bin stolz darauf, »Augschburgerin« zu sein – ich gebe alles für diese Stadt und bin sehr gespannt, wie die Bürger am Sonntag entscheiden werden.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

Chemnitz

Skulptur für Holocaust-Überlebenden Justin Sonder

Der Chemnitzer Ehrenbürger war bis ins hohe Alter als unermüdlicher Zeitzeuge unterwegs. Sogar mit mehr als 90 Jahren besuchte er noch Schulen, um in den Klassenzimmern von seinen Erinnerungen zu berichten

 07.11.2024

Interview

»Ich hatte großes Glück«

Der deutsch-russische Jurist German Moyzhes über seine Zeit im Gefängnis, den Gefangenenaustausch und einen Neuanfang in der Kölner Gemeinde

von Christine Schmitt  07.11.2024

Potsdam

Jüdisches Leben sichtbar machen

Eine Themenwoche startet mit Führungen, Workshops und Diskussionen – Anlass ist der Jahrestag des Novemberpogroms 1938

 07.11.2024

9. November

Zum Erinnern motivieren

Wie die Gemeinden mit Kommunen, Kirchen und Nachbarn an die Pogromnacht erinnern

von Matthias Messmer  07.11.2024

Frankfurt

Premiere, Party, Punkte

500 Jugendliche nahmen am »Jewish Quiz« teil – es blieb spannend bis zum Schluss

von Eugen El  07.11.2024

München

Eindringliche Warnung

Peter R. Neumann beleuchtet die Gefahren eines neuen Dschihadismus

von Luis Gruhler  06.11.2024

Berlin

Kai Wegner gratuliert Margot Friedländer

Die Holocaustüberlebende wird heute 103 Jahre alt

 05.11.2024

9. November 1938

»Mir war himmelangst«

Ruth Winkelmann (96) überlebte die Novemberpogrome und die NS-Zeit in Berlin

von Nina Schmedding  05.11.2024

Chabad Berlin

Ein offenes Haus

Pears Jüdischer Campus: Seit einem Jahr ist die Bildungsstätte von Chabad in Betrieb – ein Besuch

von Pascal Beck  04.11.2024