Trauer

»Danke, Trude!«

»Ich war ein glückliches Kind« – so begann Trude Simonsohn ihre mit Elisabeth Abendroth aufgezeichneten Erinnerungen; und diese Feststellung war, wie keine andere, Zugang und Schlüssel zu ihrem bewegten Leben, vor allem aber zu ihrem, einem Wunder gleichenden Überleben während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft.

Wenn ich an Trude denke, wenn ich mich zurückerinnere an die gemeinsame Zeit im Vorstand und Gemeinderat der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, an die zahlreichen gemeinsam besuchten Veranstaltungen in der Jüdischen Gemeinde und auch außerhalb, dann sehe ich stets ihr fröhliches, von einem Lächeln erhelltes Gesicht vor mir.

ausstrahlung Immer wieder habe ich mich gefragt, wie es, nach allem, was sie erlebt und durchlitten hatte, möglich war, sich diese leuchtende, dem Leben zugewandte Ausstrahlung zu bewahren; und wenn ich Trude traf und sie anschaute, dann schwand bei mir jede Angst vor einem hohen Alter. Trude besaß eine Vitalität, wie man sie nur selten bei jüngeren Menschen antrifft, geschweige denn bei Gleichaltrigen.

»Meine Großmutter war eine emanzipierte Frau und ihrer Zeit voraus. Ihre Selbstständigkeit und ihr Selbstbewusstsein hat sie an meine Mutter weitergegeben.«

Trude Simonsohn

»Ich war ein glückliches Kind« – die aus dieser Aussage sprechende Haltung deutete auf eine glückliche Kindheit und Jugend hin, die alles andere als unter einem glücklichen politischen Stern gestanden haben und dennoch ausschlaggebend dafür waren, dass unter den traumatisierenden Verbrechen des nationalsozialistischen Terrors und deren Langzeitfolgen ihre Seele nicht dauerhaft Schaden genommen hatte. Dafür war sie ihrer Großmutter und ihrer Mutter stets dankbar.

»Meine Großmutter«, so Trude Simonsohn in ihren Erinnerungen, »war eine emanzipierte Frau und ihrer Zeit weit voraus. Ihre Selbstständigkeit und ihr Selbstbewusstsein«, so Trude weiter, »hat sie an meine Mutter weitergegeben.« Und diese mütterlichen Persönlichkeitsmerkmale waren entscheidend für Trudes Erziehung zu einer selbstbewussten und emanzipierten Frau gewesen.

kindheit Kinder, so die von Trudes Mutter an den Lehren des Psychoanalytikers Theodor Reik angelehnte Überzeugung, seien »kleine Persönlichkeiten, die man vollkommen ernst nehmen muss und nie herumkommandieren darf«. Trude Simonsohn war überzeugt, dass sie ihre glückliche Kindheit nicht zuletzt diesem Bekannten ihrer Mutter verdankte, für den Sigmund Freud seine Abhandlung Die Frage der Laienanalyse geschrieben hatte.

Ihren Vater Maximilian Gutmann, ein begeisterter Tänzer und Reiter, schilderte Trude als »angesehenen Geschäftsmann, charmanten Gesellschafter und selbstbewussten Juden, in den eine junge Frau sich schnell verlieben konnte«.

Trude, die am 25. März 1921 in Olmütz, Tschechoslowakei, das Licht der Welt erblickte, war nach eigenen Aussagen ein Wunschkind – geliebt und behütet von ihren Eltern, ihrer Großmutter, ihrem Kindermädchen, von Tanten und Onkeln, von Cousins und Cousinen.

weltoffen In ihren Erinnerungen schreibt sie, es sei zur Zeit ihrer Kindheit nicht üblich gewesen, dass Kinder ihre Meinung äußerten und auch mal den Eltern widersprachen: Sie durfte es und verdankte vor allem ihrer Mutter, frei, weltoffen und demokratisch erzogen worden zu sein, und ihrem Vater das offene und aufgeschlossene Verhältnis zur jüdischen Identität.

Im Herbst 1938 endete ihre unbeschwerte Jugend.

In ihrer Jugend spielte sie im Sommer Tennis, fuhr im Winter Ski, war eine ausgezeichnete Turnerin und Schwimmerin und gab zudem Nachhilfestunden: für tschechische Kinder Deutschstunden, für deutsche Kinder Tschechischstunden.

Als junges Mädchen las sie besonders gern Heinrich und Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch sowie Dostojewski und hatte daneben Klavierunterricht. Zu ihren Interessensgebieten zählte auch die Medizin, und sie wäre, wenn ihr Leben einen anderen Verlauf genommen hätte, sicherlich eine ausgezeichnete Ärztin geworden.

Im Herbst 1938 endete ihre unbeschwerte Jugend; sie fing an, sich in der Schule fremd zu fühlen, und verließ kurz vor ihrem 18. Geburtstag das Gymnasium: Von ihrem Traum, Abitur zu machen und zu studieren, um Ärztin oder Sportlehrerin zu werden, verabschiedete sie sich schweren Herzens, noch bevor im Sommer 1939 allen jüdischen Schülern in der Tschechoslowakei der Besuch des Gymnasiums untersagt wurde.

Trost, Halt und Hoffnung fand Trude bei ihren Freunden aus der zionistischen Jugendbewegung; für sie begann trotz zunehmend bedrohlicher politischer Verhältnisse – ihren eigenen Aussagen zufolge – ein wunderbares Leben mit gemeinsamem Wandern, Skilaufen, Diskussionen über die Geschichte der Juden, den Zionismus, über Liebe und Lebensziele. Sie und ihre Freunde begeisterten sich für die Schriften Theodor Herzls und Sigmund Freuds psychoanalytische Theorie.

Alija-vorbereitungen Trude Gutmann, das Einzelkind, hatte auf einmal viele Schwestern und Brüder. 1939 bereiteten sie sich auf die Alija, auf die Einwanderung ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina vor, denn es wurde immer offensichtlicher, dass es für Juden unter deutscher Besatzung keine Zukunft gab.

In Theresienstadt kümmerte sich Trude Simonsohn vor allem um die Kinder.

Nach Kriegsausbruch und Deportation ihres Vaters ins KZ Buchenwald, später nach Dachau verlegt, mussten sie und ihre Mutter Ende 1939 die Wohnung räumen und in ein »Judenhaus« umziehen, wo sie sich bis zum Sommer 1939 ein Zimmer teilten. Dann wurde ihre Mutter nach Theresienstadt deportiert, wohin Trude ihr im November 1942 folgte; ihr Wiedersehen war von Trauer überschattet, da Trude ihrer Mutter die Nachricht vom Tod ihres Vaters in Dachau überbringen musste.

In Theresienstadt kümmerte sich Trude vor allem um dort internierte Kinder, organisierte deren Unterricht und gab so viel Wissen wie möglich an die Kinder weiter; die wenigsten von ihnen haben das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen überlebt. In Theresienstadt lernte Trude Anfang 1943 Bertl Simonsohn, die Liebe ihres Lebens, kennen, den sie im Oktober 1944, kurz vor ihrer beider Deportation nach Auschwitz, heiratete.

Amnesie Auschwitz war die Hölle. Kahl geschoren, zeitweise nackt, stundenlanges Appellstehen in bitterer Kälte und dröhnend laute Musik – das sind ihre Erinnerungen an Auschwitz, mehr nicht: Amnesie als Schutzfunktion, Vergessen als Überlebensnotwendigkeit, »Ohnmacht der Seele«, wie Trude ihr Dasein in der Hölle von Auschwitz bezeichnete und damit eine Ahnung von jener unvorstellbaren Willkür vermittelte, der vor allem Frauen in den von Männern dominierten Konzentrations- und Vernichtungslagern ausgesetzt waren.

»Wer von uns Lebenden darüber sprechen kann«, so Trude Simonsohn über die jenseits unserer Vorstellungskraft liegenden Verbrechen der Nationalsozialisten, »der sollte darüber sprechen. Das sind wir den Ermordeten schuldig.« Doch es gibt, wie die blockierten Erinnerungen von Trude Simonsohn und anderen KZ-Überlebenden belegen, Grenzen des Mitteilbaren, die durch tief verdrängte traumatisierende Erinnerungen unüberschreitbar bleiben.

Die Erfahrung lehrt: Es gibt Überlebende des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens, die an ihren unaussprechlichen Erlebnissen zerbrochen sind; der Hölle entronnen, konnten sie in dieser Welt nie wieder ganz heimisch werden. Warum ein Teil der Überlebenden unter der Last der Vergangenheit seelisch gelähmt durchs Leben geht, ein anderer Teil, nicht minder gezeichnet, dennoch eine davon gänzlich abweichende Einstellung zeigt, wird wohl nie abschließend zu beantworten sein.

solidarisch Was immer auch die Gründe sein mögen: Trude Simonsohn zählte zu jenen, deren Lebenswille nach dem Inferno ungebrochen war. Neuanfang und Wiederaufbau nach jeder Zerstörung als Vermächtnis der Geschichte des eigenen Volkes bestimmten ihr Leben, und darin bezog sie stets die Gemeinschaft, der sie zugehörte, in Solidarität mit ein.

Trude Simonsohns Lebenswille war auch nach dem Inferno des nationalsozialistischen Menschheitsverbrechens ungebrochen. »Ich war ein glückliches Kind«: In dieser Aussage lag der Schlüssel zu ihrem ungebrochenen Lebenswillen, zu ihrer stets positiven Sicht der Dinge und zu ihrem grenzenlosen Optimismus.

Von 1986 bis 1998 war Trude Simonsohn Mitglied des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, von 1986 bis 1989 Mitglied des Vorstands und anschließend über drei Wahlperioden hinweg bis 1998 Vorsitzende des Gemeinderates der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Am 16. Oktober 2016 verlieh ihr die Stadt Frankfurt in der Paulskirche als erster Frau überhaupt die Ehrenbürgerwürde.

Sie erstaunte ihre Zuhörer immer wieder mit ihrem feinsinnigen Humor.

Als Zeitzeugin und einzige Überlebende ihrer Familie gab sie viele Jahre ihre persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen – soweit sie sich in Worte fassen ließen – unermüdlich an die ihr nachfolgenden Generationen weiter. Immer wieder erstaunte sie ihre Zuhörer durch ihr einnehmendes Wesen, ihre Jugendlichkeit, ihre starke Persönlichkeit sowie ihren feinsinnigen Humor. Und Trude besaß zudem eine Gabe, die man eher bei Männern als bei Frauen erwartet: Sie war eine hervorragende Witzeerzählerin, eine ihrem ungewöhnlichen Lebensweg abgetrotzte, reaktive Eigenschaft.

Humor Diesen Humor hatte sie sich auch bewahrt, nachdem sie 2017 in das von Rabbiner Andrew Steiman geleitete jüdisch-christliche Altersheim der Henry und Emma Budge-Stiftung gezogen war. Als Hilmar Hoffmann sie dort besuchte, saßen er und Trude im Rollstuhl. Im großen Saal der Budge-Stiftung bat Trude vom Rollstuhl aus um Tanzmusik und drehte mit ihrem langjährigen Freund Hilmar Hoffmann zur Musik einige Runden auf dem Parkett – beide im Rollstuhl. Das war an ihrem 95. Geburtstag, und diese Geburtstagsparty wiederholte sich jedes Jahr – bis zu ihrem 99. Geburtstag, der pandemiebedingt nicht gefeiert werden konnte.

Auch ihr 100. Geburtstag konnte nicht groß gefeiert werden, was aber niemanden daran hinderte, ihr zahlreiche Geschenke zukommen zu lassen. An diesem Tag ergoss sich in ihrer Wohnung ein Blumenmeer bis hinaus auf den Flur. Sie bat ihre treue Pflegerin Ludmilla, die Blumen im Heim zu verteilen – alle sollten teilhaben, wenn es für Trude etwas zu feiern gab. Am Donnerstag vergangener Woche ist sie, wie ihre Schwiegertochter Beate berichtet, verstorben.

Yehi sich’ra baruch – ihr Andenken sei gesegnet.

Danke, Trude!

Der Autor ist seit 1999 Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.

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