Was macht es mit einem, wenn man mit dem Wissen aufwächst, dass politischer Widerstand mit einer Hinrichtung enden kann? Wenn es der eigene Urgroßvater war, der diese Gefahr in Kauf nahm und sich trotzdem am Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944 beteiligte?
Clara von Nathusius, 28 Jahre alt, sieht in diesem Ereignis keinen direkten Zusammenhang zu sich und ihrem persönlichen Engagement gegen Antisemitismus. »Das an meinem Vorfahren aufzuhängen, finde ich schwierig. Aber vielleicht ist es tieferliegend.«
Am Dienstagabend erhält sie nun im Berliner Hotel Adlon für ihr Engagement den »Preis für Zivilcourage und gegen Antisemitismus, Rechtsradikalismus und Rassismus«. Der Förderkreis des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« und die Jüdische Gemeinde zu Berlin zeichnen die Mitgründerin von »Fridays for Israel« aus, weil sie »auf eindrucksvolle Weise« gezeigt habe, »wie viel Wirkung einzelne Personen in unserer Gesellschaft« haben können.
Fridays for Israel
»Fridays for Israel«, eine nach eigenen Angaben überparteiliche Initiative junger Menschen, will auf die Situation jüdischer Schüler und Studierender in Deutschland aufmerksam machen und setzt sich für das Existenzrecht Israels ein. Auslöser: der Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023.
Nathusius – blauer Wollpulli, Jeans und blondes Haar – sitzt an diesem trüben Novembertag in einem Café in Berlin-Mitte und erzählt von ihrem Leben.
Ihr Urgroßvater habe aus »tiefem Glauben und ethischer Motivation« gehandelt.
Jahrelang sei sie auf Gedenkveranstaltungen zum 20. Juli gewesen und habe auch mit ihrem Großvater – »er ist 95 Jahre alt und gut beisammen« – über dessen Vater, Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, gesprochen. Er wurde am 8. September 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Nathusius findet es bemerkenswert, dass ihr Urgroßvater »nicht nur sich selbst, sondern auch seine Familie in Gefahr gebracht hat, um etwas zu verändern«: Ihr Großvater wurde als 15-Jähriger verhaftet, nachdem die Widerstandsgruppe um Stauffenberg aufgeflogen war, ebenso der Rest der Familie.
Freiwilliges Soziales Jahr in einen Kinderheim in Peru
Als jüngstes von drei Kindern wuchs Clara von Nathusius bei Frankfurt am Main auf. Nach dem Abitur machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in Peru in einem Kinderheim – auf Wunsch ihrer Eltern, die dies allen drei Kindern nahelegten. »Das war sehr augenöffnend«, sagt Nathusius. »Ich bin sehr behütet aufgewachsen und musste nie wirklich darüber nachdenken, ob es mir an etwas fehlt.« Danach studierte sie in München und Berlin Betriebswirtschaft; seit ein paar Jahren arbeitet sie in Berlin in einer Unternehmensberatung. Diszipliniert steht sie fast jeden Tag um 5.30 Uhr auf und geht zehn Kilometer joggen. »Ein herrlicher Ausgleich«, sagt sie.
Für ihr Engagement erfährt die junge Frau auch Ablehnung, wird im Netz beschimpft und bedroht. Das sei aber nicht wichtig, betont sie. »Juden betrifft das jeden Tag.«
Sie diskutiere viel in Netzwerken und auch mit Freunden über den Nahost-Konflikt und Antisemitismus. »So kann jeder seinen Beitrag leisten«, findet sie. Vor allem wendet sie sich dagegen, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht einfach gelebt werden kann – unabhängig von der Situation im Nahen Osten. Dass die Menschen in Deutschland und Europa ihren Glauben und ihre Kultur verstecken, weil sie Angst haben vor Übergriffen.
Im Netz wird Nathusius auch beschimpft und bedroht. Das sei nicht wichtig, sagt sie.
»Da gibt es für mich kein ›Ja, aber‹«, unterstreicht sie. »Ich betrachte es als meine Aufgabe, dass wir nicht damit einverstanden sind, dass Juden hier nicht in Sicherheit leben.«
Dass jüdische Einrichtungen hierzulande polizeilich geschützt werden müssen – nach dem 7. Oktober 2023 mehr als je zuvor – sei Normalität. Dagegen wehrt sie sich.
Kritik an der israelischen Regierung sei »natürlich« erlaubt. Generell ist ihr wichtig, keine Wertung der Antisemitismusformen vorzunehmen, aber sie sagt auch: »Wenn wir nicht darüber sprechen, dass es auch migrantischen und antizionistischen Antisemitismus gibt, können wir das Problem nicht lösen.« Sie sei nach dem Angriff auf Israel vor allem durch jüdische Studierende in Berlin und deren Situation an den Unis aufmerksam geworden: »Da gibt es jeden Tag antisemitische Äußerungen, zum Beispiel in Chatgruppen.«
Angst wegen eines hebräischen Kinderliedchens
Eine Bekannte, die ein kleines Kind hat, das in den jüdischen Kindergarten geht, habe ihrer Organisation erzählt, dass sie sich nicht traue, die Kleine an Kita-Schließtagen mit in die Uni zu nehmen. Aus Sorge, sie könne dann ein hebräisches Kinderliedchen vor sich hin trällern und so als Jüdin identifiziert werden.
Bei einer der »Fridays for Israel«-Kundgebungen habe eine jüdische Rednerin aus Sicherheitsgründen eine Baseballkappe, Schal und Sonnenbrille getragen, um später nicht erkannt werden zu können. Nathusius brachte die Frau später zur U-Bahn, weil sie Angst hatte.
Ihr Urgroßvater habe aus »tiefem Glauben und ethischer Motivation« gehandelt, schreibt Nathusius in einem Internet-Blog. Ein Held habe er nicht sein wollen. Genauso wenig wie sie selbst: »Ich mache das ja nicht, um Preise zu bekommen«.