Guten Morgen, Genossin!» In meinem ersten Monat auf der Arbeit bin ich im Fahrstuhl so begrüßt worden. Gewohnt bin ich das eigentlich nicht, denn mit der Gewerkschaft hatte ich allenfalls mal als Kind zu tun, als mich meine Eltern auf Mai-Kundgebungen in meinem Heimatort Kapustin Jar in Russland mitnahmen. Doch seit über einem Jahr arbeite ich im Bremer Gewerkschaftshaus: bei ADA, einem Projekt, das zu Diskriminierung in der Arbeitswelt berät, Betriebe dazu schult und öffentliche Veranstaltungen zu verschiedenen Diskriminierungsformen durchführt.
Wie viele andere jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion habe ich mein Judentum recht spät entdeckt. Nach unserer Ankunft in Bremen 1992 war die hiesige Gemeinde die erste Anlaufstelle, um in der Stadt Fuß zu fassen. Für mich war das auch der erste direkte Kontakt zu Jüdinnen und Juden außerhalb meiner Familie. Da war ich acht Jahre alt.
schtetl Zuvor wusste ich zwar, dass wir Juden sind. Aber dass wir zum Beispiel Mazza gegessen hatten, weil Pessach war, oder warum wir uns in den Sommerferien mit meinem Opa Lejzer im Schtetl Haradok koscher ernährt haben, ist mir erst in Bremen bewusst geworden. Nachdem ich im Religionsunterricht der Gemeinde mehr dazu gelernt hatte, ging ich regelmäßig und auf eigene Faust in die Synagoge.
Das Jugendzentrum der Gemeinde war eine weitere wichtige Anlaufstelle – dort war ich vor allem als Teenager sehr aktiv. Meine Eltern waren immer stolz auf mein Engagement, etwa wenn ich als Teil der Theatergruppe an Purim Esther spielte. Von Zeit zu Zeit beschwerten sie sich jedoch, ähnlich wie bei wahrscheinlich den meisten Teenagern: «Am Wochenende bekommen wir dich kaum noch zu Gesicht.»
Nur für ein paar Stunden Schlaf zwischen Disko und Synagoge sei ich damals nach Hause gekommen. Das ist sicherlich ein bisschen übertrieben, etwas dran ist da aber schon. Denn ich war wirklich sehr engagiert in der Gemeinde. In dieser Zeit habe ich auch die Jugendleiterausbildung der ZWST absolviert. Ob Italien, Budapest, Wien, Prag oder Südtirol – mit der ZWST bin ich viel herumgekommen. Und habe mich intensiv mit meiner jüdischen Identität auseinandergesetzt.
synagoge Lustigerweise ist mein Vater inzwischen selbst sehr aktiv im Gemeindeleben. Ob bei der Chorprobe oder wenn es darum geht, einen Minjan im Bremer Umland zusammenzubringen – er ist sofort mit dabei, und seit seinem letzten Geburtstag ist er stolzer Besitzer von Tefillin aus Israel. Wenn Gäste zum Gottesdienst in die Synagoge kommen, ist er sehr hilfsbereit und zeigt ihnen schnell die richtige Stelle im Gebetbuch und alles weitere.
Von der Empore kann ich das immer gut beobachten. Meine Mutter hatte vor ihrem Tod eher einen kulturellen als religiösen Zugang zum Judentum und war auch manchmal in der Gemeinde, mit mir zusammen an Feiertagen oder zu Veranstaltungen der russischen Kulturinitiative. Sie hat dort an Pessach für uns Mazza geholt und mir an Chanukka Latkes gemacht.
Auch heute gehe ich regelmäßig und gerne in die Synagoge, allerdings nicht mehr so häufig wie früher. Denn seit zweieinhalb Jahren bin ich Mutter und muss auch am Freitag und Samstag schauen, dass mein Sohn rechtzeitig ins Bett kommt. Zu den Hohen Feiertagen und am Freitagabend versuche ich dennoch, da zu sein.
feiertage Manchmal feiere ich die jüdischen Feiertage zu Hause mit Freunden, die ebenfalls Kinder haben. Das ist eine tolle Tradition, die ich gerne pflege. Meinem Sohn bringe ich mit Freude und Schritt für Schritt viele Bräuche des Judentums bei. Am Schabbat zünden wir immer Kerzen an. Die hat mein Sohn zwar auch schon mal nach dem Motto «Happy Birthday» auszupusten versucht.
Doch wir arbeiten daran. Beim Chanukka-Kalender hat er mit den acht Türchen immerhin etwas weniger Arbeit als manche seiner Freunde. Mit meinem Sohn spreche ich ausschließlich Russisch. Mir ist wichtig, dass er diese Sprache lernt und mit den gleichen Büchern, Gedichten und Zeichentrickhelden aufwächst wie ich. Da wir in Deutschland leben und mein Mann auch seine Einflüsse mitbringt, kann mein Sohn somit aus einem vielfältigen Repertoire schöpfen. Ich finde das schön.
Mit meinen Ernährungsgewohnheiten – ich esse kein Schweinefleisch, ernähre mich aber nicht koscher – klappt es auch auswärts meist reibungslos. Warum auch nicht? Mein Essen kommt dann zum Beispiel einfach zuerst auf den Grill. Mein Mann, der nicht jüdisch ist, hätte sicherlich kein Problem, auf koschere Nahrung umzusteigen – er isst ohnehin vegetarisch. An Feiertagen oder zu Kinderfesten kommt er gerne auch mit in die Gemeinde.
gänsehaut Viel wichtiger als das Einhalten der orthodoxen Regeln ist mir die Erfahrung von Gemeinschaft. Wenn das Schofar an Rosch Haschana ertönt, bekomme ich Gänsehaut. Ich fühle mich dann zugehörig, das ist ein seltenes Gefühl in Deutschland. Die Normalität des Jüdischseins ist auch ein wichtiger Grund, weshalb ich mich in Israel so wohlfühle: Dort sehe ich mich nicht ständig unter Druck gesetzt, mich erklären oder definieren zu müssen.
Es ist ein schönes Gefühl, Verwandte in Akko und Haifa, am anderen Ende der Welt, zu haben. Wenn etwas in Israel passiert, mache ich mir Sorgen und erkundige mich dann bei meinen Freunden, Bekannten und Verwandten nach ihrem Wohlbefinden. Im Urlaub Juden zu treffen oder Hebräisch zu hören, macht mich glücklich. Mir geht dann das Herz auf. Auf Reisen sehen wir uns immer die lokalen Synagogen an oder essen in jüdischen Restaurants.
Vor einiger Zeit waren wir in Marokko. Es war spannend zu sehen, wo früher Juden lebten. Gleichzeitig hat mich die Auflösung der dortigen jüdischen Gemeinschaft und die Vertreibung der Mehrheit der marokkanischen Juden sehr berührt. Das wurde besonders greifbar, als wir von Straßenhändlern Chanukkiot und Menorot aus früheren Synagogen zum Kauf angeboten bekamen.
solidarität Zu meiner Verbundenheit mit Israel gehört auch eine klare politische Solidarität. Wenn es sein muss, will ich nicht nur über Abraham, sondern auch über Antisemitismus reden. Ebenso wenig will ich mich von Rechten instrumentalisieren lassen. Mit der Begründung, man wolle uns Juden schützen, versuchen AfD- und einige Unionspolitiker doch nur, die eigene Islam- und Immigrationsfeindlichkeit zu verpacken.
In der Tat wird Antisemitismus unter Muslimen und Flüchtlingen auch in Deutschland nicht ausreichend und kompetent angegangen. Die muslimische Community muss sich dieses Themas mit Nachdruck annehmen. Aber nicht nur sie. Denn sobald man den in allen Teilen der Gesellschaft vorhandenen Antisemitismus an «die anderen» auslagert, macht man sich von jeder eigenen Verantwortung frei.
Einfach abschieben kann man die Judenfeindschaft nicht, denn dazu ist sie hier viel zu sehr verwurzelt, auch bei den «Copyright-Deutschen». Das halte ich für einen sehr wichtigen Aspekt der Debatte, der aber leider häufig ignoriert wird. In der aktuellen Diskussion um Antisemitismus würde ich mir deshalb mehr Nüchternheit und Differenzierung wünschen. Im Gewerkschaftshaus organisieren wir demnächst einen Fachtag zum Thema Antisemitismusbekämpfung.
jugendarbeit Neben meiner Arbeit und dem Familienleben biete ich seit einigen Jahren Führungen für Bremer Schulklassen durch die Gemeinderäumlichkeiten an. Da dürfen die Schüler alles fragen, was sie über jüdisches Leben wissen wollen. Nicht selten haben viele noch nie mit Juden Kontakt gehabt und sind neugierig.
Darüber hinaus organisiere ich seit Jahren die «Nacht der Jugend» im Bremer Rathaus anlässlich des Gedenkens zum 9. November 1938 mit, die ich letztes Jahr auch moderiert habe. Uns geht es darum, mit Jugendlichen eine Art von Erinnerungskultur in Bremen und darüber hinaus zu etablieren, aus der wir Inspiration für ein besseres zukünftiges Miteinander schöpfen können. Das passiert über verschiedene Auftritte, Ausstellungen, Begegnungen mit Zeitzeugen und Vorarbeit in Schulklassen. Das diesjährige Motto ist: «Was geht mich das an?» Mir ist es sehr wichtig, dass gerade für Kinder und Jugendliche Jüdischsein positiv besetzt ist.
«Wir sind viele, wir sind eins», das war das Thema bei der letzten Mai-Demo des DGB, auf der ich für ADA auch eine Rede gehalten habe. Darin habe ich auch von meinen persönlichen Erfahrungen als Tochter von russischen Einwanderern berichtet. Die Frage, wer sprechen darf und gehört wird, begleitet mich nicht erst seit meinem kultur- und sprachwissenschaftlichen Studium. Ich bin froh, dass ich das bei ADA, wo wir zu allen Diskriminierungsformen arbeiten, öffentlich thematisieren kann.
Aufgezeichnet von Till Schmidt