Es ist Donnerstagabend. Am Ufer des Landwehrkanals in Berlin-Kreuzberg herrscht reger Betrieb. Menschen sitzen zusammen oder gehen spazieren. »Ronja, komm, wir gehen weiter«, ruft Nina Peretz ihrer kleinen Tochter zu, während sie ihr Fahrrad mit dem Kinderwagen-Anhänger an den Passanten vorbeimanövriert.
Die 37-Jährige steuert die Wiese vor dem Urban-Krankenhaus an. Als sie bekannte Gesichter entdeckt, ruft sie zufrieden: »Da sitzen sie alle!« Alle – damit meint sie die Teilnehmer der »Langen Lernnacht« an Schawuot. Die Gäste haben es sich in Zweier-, Dreier- und Vierergruppen auf Picknickdecken gemütlich gemacht.
VORTEIL Für gewöhnlich hätten sie den Abend in der Synagoge Fraenkelufer verbracht – »mit einem großen, festlichen Buffet und etwa 150 Gästen«, sagt Nina Peretz, die mit ihrem Verein Freunde der Synagoge Fraenkelufer das religiöse Leben in dem Gotteshaus gestaltet. Bis in die Nacht hinein hätten sie gemeinsam Auszüge aus der Tora gelesen und diese diskutiert. Doch seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist alles etwas anders.
Was tun, wenn an Schawuot kein größeres Fest stattfinden darf? Auf eine Online-Veranstaltung ausweichen? Dank der Plattform Base Berlin, mit der die Synagoge Fraenkelufer eng zusammenarbeitet, ist die Idee des gemeinsamen Lernens am Kanal entstanden. Der Vorteil: Es gibt keine Platzbeschränkung, und das Ansteckungsrisiko unter freiem Himmel ist geringer.
LERNHEFTE Der Einladung ans Ufer sind etwa 40, 50 Gäste gefolgt. Der erst kürzlich ordinierte Rabbiner und Base-Gründer Jeremy Borowitz hat Lernhefte an sie verteilt. Mit den Zehn Geboten wird sich heute auseinandergesetzt. Um die Gruppendiskussion zu erleichtern, haben die Organisatoren nach jedem Abschnitt Fragestellungen formuliert.
Viele Teilnehmer haben sich seit Wochen nicht gesehen.
Miriam und Chaya, beide Mitte 30, sind gerade mit dem zehnten Gebot beschäftigt – »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist«. Die Nützlichkeit von Eifersucht werde darin erörtert, meinen die Frauen.
In dem Moment, als sie ihre Auseinandersetzung weiter vertiefen wollen, gesellt sich ihr guter Freund Eretz Majerantz zu ihnen. Zum Lernen sei er an diesem Abend noch nicht gekommen, sagt er. Er nutze das Treffen erst einmal zum Plausch, viele der Gäste habe er aufgrund der Corona-Krise seit Wochen nicht gesehen.
DISKUSSION Ein paar Picknickdecken weiter sitzen zwei Männer; sie sind mit dem dritten Gebot beschäftigt – »Du sollst den Feiertag heiligen«. Inwiefern das Gebot ein Gebot sei, diskutieren sie. Enthusiastisch geht ihr Gedankenaustausch auf Hebräisch vonstatten.
Josh Weiner, Mitinitiator der Lernnacht, Base-Mitglied und Master-Student am konservativen Masorti-Rabbinerseminar Zacharias Frankel College in Potsdam, blickt zufrieden in die Runde. Mit Falafel, Kuchen und Kaffee hat er sich für den Abend gewappnet.
An seiner Seite sitzt seine Kommilitonin Naomi Henkel-Gümbel. Das sechste Gebot, »Du sollst nicht töten«, macht den beiden gerade Kopfzerbrechen – und es stellt sich die ganz praktische Frage, wie sie den heutigen Abend ausklingen lassen wollen.
Es wird langsam kühl und dunkel am Kanal. »Am besten, wir singen in fünf Minuten alle etwas gemeinsam«, schlägt Josh Weiner vor. Gesagt, getan. Jeremy Borowitz stellt sich für alle gut sichtbar in die Mitte und stimmt ein Lied an. Es wird geklatscht, ein Teilnehmer springt auf und tanzt.
COMMUNITY Genauso gesellig hat sich Nina Peretz den Abend vorgestellt. »Ich kenne jeden, der hier sitzt«, sagt sie zufrieden und schwärmt von der jungen jüdischen Community, die in Berlin-Kreuzberg immer mehr zu Hause ist. Auf der Straße Hebräisch zu hören, sei keine Seltenheit – und sogar Anlass genug, um Freundschaften zu schließen.
»Ben habe ich dadurch kennengelernt. Er hat mich und meinen Mann Dekel Hebräisch sprechen hören – daraufhin sind wir ins Gespräch gekommen«, sagt sie und begrüßt einen groß gewachsenen Mann mit rasiertem Kopf und Sonnenbrille. Seitdem gehört der Israeli zur Fraenkelufer-Clique, die sich nicht allein durchs gemeinsame Beten definiert. Vielmehr steht die Gemeinschaft im Mittelpunkt.
2012 haben sie erstmals einen Tikkun Leil Schawuot auf die Beine gestellt. Initiiert wurde er von Nina Peretz’ Ehemann, der aus einem orthodoxen Elternhaus in Israel stammt und im Verein fürs Programm zuständig ist.
Für die Hohen Feiertage sind gemietete Räume eine Option.
Seit Ausbruch des Coronavirus seien öffentliche Zusammenkünfte – ob in der Synagoge oder außerhalb – selbstverständlich untersagt gewesen, sagt die 37-Jährige. Die Lockerungen seit Anfang Mai begrüßt sie sehr. »Wir haben die Synagoge sofort wieder aufgemacht«, sagt sie.
Für genügend Sicherheitsabstand und Desinfektionsmittel werde gesorgt, auch das Tragen einer Maske sei Pflicht. All diese Einschränkungen seien bei Weitem besser, als weiterhin auf Online-Angebote zurückgreifen zu müssen. »Wir genießen es einfach, wieder zusammenzukommen«, sagt Nina Peretz.
UNGEWISSHEIT Wie es in naher Zukunft weitergeht, steht in den Sternen, meint die Vereinsvorsitzende. Doch die Ungewissheit macht die Gemeinde erfinderisch. »An Pessach haben wir zum Beispiel an 120 Haushalte in ganz Berlin Pessach-Pakete verteilt – gepackt mit Mazzot, Haggadot, Charosset und Maror.
Dafür ist ein kleines Team drei Tage lang mit einem Auto durch die Stadt gefahren und hat den Leuten die Pakete bis zur Haustür gebracht«, sagt Nina Peretz. »Wir wollten ermöglichen, dass die Menschen zu Hause bleiben und trotzdem den Seder feiern können. Die Übergabe erfolgte kontaktlos – wir haben geklingelt und den Leuten die Sachen dann vor die Tür oder in den Hauseingang gestellt.«
Falls an den bevorstehenden Hohen Feiertagen größere Zusammenkünfte wieder erlaubt werden sollten, werde der Verein Veranstaltungsräume mieten. »Normalerweise kommen an jenen Tagen bis zu 250 Menschen zusammen«, sagt Nina Peretz. Sie will optimistisch bleiben, dass das auch klappt. Falls nicht, werde man eben improvisieren, ganz nach dem Motto: Corona macht erfinderisch.