Porträt der Woche

Chassidismus und Tierwohl

»Wenn ich zum Schabbes in die Synagoge gehe, bin ich als Chassid erkennbar«: Jisrael Jitzchak Schmitt (36) aus Stuttgart Foto: Brigitte Jähnigen

Zwei Säulen halten mich am Leben: der Chassidismus, besonders der Breslauer, und die Tiere. Pferde, Kühe, Schafe sowie Ziegen und Hühner habe ich auf meinem Aussiedlerhof auf der Schwäbischen Alb gehalten. Und es war wunderbar, die Wärme eines Pferdes zu spüren, wenn ich auf ihm geritten bin. Es hat mir ein Gefühl der Entspannung gegeben. Aber irgendwann konnten meine inneren Batterien nicht mehr allein durch die Tiere geladen werden. Es reichte einfach nicht mehr. Dann las ich von Rabbi Nachman aus Breslav, einem chassidischen Rabbiner des 19. Jahrhunderts. Es traf mich im Innersten.

Mein Großvater mütterlicherseits kam ursprünglich aus Ungarn. Aber nach dem Krieg blieb er in Deutschland. Aus seiner Ehe stammt meine Mutter. Leider hat mein Opa nicht viel aus seinem Leben erzählt, aber es gab da ja noch Großonkel Rudi. Den fand ich immer cool. Er war Forstwirt und hatte Ziegen. Und später machte er einen Giur. Leider hatten wir familiär wenig Kontakt zu ihm, als ich ein Kind war. Vielleicht war es aber diese Inspiration, die mich zu Rabbi Nachman führte.

Bei meinem ersten Kabbalat kamen mir die Tränen

Jedenfalls lernte ich sehr viel, traf auch meinen Großonkel Rudi und machte bei Rabbiner Yehuda Pushkin 2023 einen Giur. Bei meinem ersten Kabbalat kamen mir die Tränen. Ich war vorher noch nie in der Stuttgarter Synagoge gewesen – aber es war wie ein Heimkommen. Ich besuchte davor regelmäßig die Gemeinde in Esslingen. Zu meinem Bedauern findet an diesem Ort nicht jeden Schabbes ein Gottesdienst statt. Jedoch bin ich seit diesem tiefen spirituellen Erlebnis jeden Schabbat, Jom Tow und auch am Jom Chol in der Stuttgarter Kehilla.

Mein Weg bis hierher war nicht so geradlinig, wie sich meine Eltern das gewünscht hätten. Eigentlich wollte ich Tiermedizin studieren. Das wusste ich schon recht früh. Aber wenige Wochen vor dem Abitur habe ich die Schule geschmissen. Wie sollte es also mit mir weitergehen? Nach einigen kontroversen Diskussionen begann ich eine Lehre als Zimmerer bei meinem damaligen Nachbarn. Die Lehrzeit wurde aufgrund meiner schulischen Vorbildung verkürzt. Ich übersprang damals das erste und verkürzte das dritte Lehrjahr.

Wir krempelten die Ärmel hoch

Mit diesem Abschluss vor fast 16 Jahren wurde ich auch Sieger der Handwerkskammer. Ich lernte meine zukünftige Frau kennen – wir machten gemeinsame Pläne. Ich würde die Meisterschule besuchen, um das Stipendium in Anspruch nehmen zu können, und parallel dazu würden wir einen Aussiedlerhof kaufen und sanieren. Wir heirateten, meine Frau machte auch eine Zusatzausbildung, und wir krempelten die Ärmel hoch.

Der Hof liegt in Buttenhausen, einem kleinen Dorf im malerischen Großen Lautertal, inmitten des Biosphärengebiets Schwäbische Alb. Dort gab es vor der Schoa eine große jüdische Gemeinde. Aber irgendwie haben meine Frau und ich uns wohl bei allem Schaffen verloren. Wir mussten den Hof verkaufen, was bitter war.

Wenn ich hoch über dem Laubertal die Tefillin lege und die Sonne aufgeht, ist das einfach Wahnsinn.

Aber Rabbi Nachman sagt: Es ist eine große Mizwa, immer glücklich zu sein. Der Chassidismus hat viel mit Lebensfreude zu tun. Ich kann schlecht Hilfe annehmen, möchte nicht von anderen Menschen abhängig sein. In Krisen muss ich die Dinge mit mir und meinem Schöpfer verhandeln. Der Chassidismus gibt mir dazu den Mut und die Lebenskraft, und ich kann auch die Fröhlichkeit in allen Lebenssituationen bewahren oder zumindest wiederfinden.

Ich pendele also zwischen Buttenhausen und Stuttgart. Das heißt, morgens um drei Uhr klingelt der Wecker, anziehen, Birkot haShachar beten und ab ins Auto, damit ich gegen fünf Uhr in der Firma bin. Ich arbeite momentan noch in einem größeren Fertighaushersteller. Dort bin ich unter anderem für die Auszubildenden verantwortlich. Im Unternehmen werden Menschen beschäftigt, die aus 27 Nationen stammen. Auch Syrer, Afghanen, Türken sind darunter. Ich falle auf. In der Pause lege ich Tefillin an und bete Schacharis.

Für manche bin ich »der Jude«

Freitags beende ich spätestens gegen elf Uhr meine Arbeit – sollte ich trotz vereinbarter Vier-Tage-Woche doch noch arbeiten müssen. Diese Regelung schürt Neid, und das sorgt für Zündstoff. Mancher braune Witz wird kommentiert mit den Worten, es sei doch nicht so gemeint. Das Umfeld hat offenbar Probleme mit Menschen, die anders sind als sie. Für manche bin ich »der Jude«.

Die Tiere werden inzwischen von einem nichtjüdischen Freund versorgt. Die Landschaft in bis zu über 800 Metern Höhe ist auf der Schwäbischen Alb geprägt von Wacholderheiden und unendlicher Weite. Es ist eine ganz besondere Form der Kulturlandschaft und zugleich eine der artenreichsten Lebensräume mit vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten. Am engsten mit der Wacholderheide verbunden sind Schafe. Erst durch deren Beweidung ist dieser Lebensraum entstanden.

Meine Schafe und Ziegen wandern also mit meinem Freund oder mir durch die Heide oder werden in Koppeln gehalten. Das ist der Alltag. Wenn die Mutterschafe lammen, bin ich dabei. Bei Zwillings- oder Drillingsgeburten muss man auch schon mal den Tierarzt holen. Ich pflege auch Mutterkuhhaltung und halte Pferde, und zwar Araber. Doch der bürokratische Aufwand für Kühe ist zu hoch. Deshalb möchte ich die Schaf- und Ziegenhaltung ausbauen.

Das passt besser in mein Nomadenleben. Es wäre mein großer Traum, einen tiergestützten Therapiehof mit Reit- und Tiertherapie in Verbindung mit Bauernhofpädagogik zu eröffnen, und zwar für traumatisierte Kinder und Erwachsene – quasi eine Verbindung von jüdischer Religion und Ethik mit psychologischen Aspekten, um den Menschen wieder einen realen Bezug zu pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln zu vermitteln.

Hierzu sind zwar Ortsveränderungen nötig, aber das wäre meine wirkliche Berufung. Ich habe als Grundlage zudem eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert und würde mich gerne zum Reittherapeuten in Konstanz am Bodensee ausbilden lassen.

Irgendwann habe ich gemerkt, dass Käse aus den USA für Schawuot nicht im Sinne von Tikkun Olam sein kann

Immer wieder werde ich nach koscher geschlachtetem Geflügel gefragt. Es gibt Großschlachtereien in Polen und Bulgarien, allerdings schächtet man dort wie am Fließband. Gerade in der heutigen Zeit, in der Tierwohl ein immer wichtigerer Faktor wird. Wie soll das gehen? Viele koschere Produkte kommen zu uns aus Israel, auch wenn das gerade schwierig ist. Andere aus Straßburg oder Antwerpen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass Käse aus den USA für Schawuot nicht im Sinne von Tikkun Olam sein kann. Und ich dachte: Na ja, ob das vielleicht der richtige Weg ist?

Rinder darf man in Deutschland nicht schächten, für Schafe und Ziegen könnte man Ausnahmen erwirken. Man bräuchte einen Schochet. Drei Jahre dauert eine solche Ausbildung in Israel. Das könnte ich mir ebenso vorstellen. Vielleicht braucht es dafür einen Enthusiasten wie mich? Auch diese Idee reift in mir. In der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) bin ich jedenfalls glatt koscher akzeptiert.

Wenn ich zum Schabbes in die Synagoge gehe, bin ich als Chassid erkennbar. Mit Bart, Pejes und Hut. Ich bin gut aufgenommen worden. Nun, so denken manche, sollte ich heiraten. Eine jüdische Frau. Auch deshalb wurde ich nach Berlin und Nürnberg eingeladen. Aber ich bin noch nicht so weit. Ich war ja schon einmal verheiratet. Und vielleicht bin ich, wie man so sagt, ein gebranntes Kind. Aber wenn ich mir eine Frau vorstelle, dann muss sie religiös orthodox sein, dem Chassidismus zugetan und Tiere akzeptieren.

Wenn ich zum Schabbes in die Synagoge gehe, bin ich als Chassid erkennbar. Mit Bart, Pejes und Hut.

Ich bin sehr bodenständig und würde behaupten, in Stuttgart sogar schon verwurzelt. Wenn sie in der Firma erzählen, wo sie überall hinfliegen und mich fragen: »Wo warst du?«, dann sage ich: »In Zürich.« Also ich möchte, ehe ich mich irgendwie örtlich groß verändere, erst einmal in der Nähe bleiben. Auch weil ich meinem Gemeinderabbiner Yehuda Pushkin sehr dankbar bin für die Einführung in den Chassidismus und sein jederzeit offenes Ohr nicht nur in sämtlichen Fragen der Halacha.

Wenn ich hoch über dem Lautertal die Tefillin lege, das Achtzehnbittengebet bete und die Sonne aufgeht, ist das einfach der Wahnsinn. Dann bin ich allein in der Natur und meinem Schöpfer nochmals eine Stufe näher. Ganz im Sinne von Rabbi Nachman von Breslav und im Sinne von Hitbodedut, dem Sich-Absondern und -Zurückziehen in die Natur im persönlichen Gespräch mit Haschem.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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