Als Charlotte Knobloch am 29. Oktober 1932 geboren wurde, drohten düstere Zeiten. Wenige Monate später sollte Deutschland im Griff der Nationalsozialisten sein, knapp sieben Jahre später am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnen. Dass Knobloch diese Schrecken überlebte, grenzt für sie an ein Wunder, ebenso wie das Wiedererstarken der jüdischen Gemeinschaft nach dem Holocaust.
»Wenn ich heute diese lebendige jüdische Gemeinde sehe, dann ist das für mich eine große Freude«, sagte die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern dieser Tage anlässlich ihres 90. Geburtstages am 29. Oktober.
Einige Momente haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt wie die Pogromnacht vom 9. November 1938. An diesem Abend eilt die kleine Charlotte mit ihrem Vater, dem Rechtsanwalt Fritz Neuland, durch die Münchner Innenstadt - auf der Flucht vor marodierenden NS-Schergen, die in dieser Nacht jüdische Geschäfte verwüsten und plündern, die Synagoge in Brand setzen und Tausende Jüdinnen und Juden gefangen nehmen, verschleppen und misshandeln.
»Um uns herum herrschen Lärm und Geschrei«, schreibt Knobloch in ihrer Autobiografie »In Deutschland angekommen«. Glasscheiben bersten, Flammen prasseln, Balken stürzen herab. »Und Menschen, die johlen: »Juda verrecke!««.
Vater und Tochter verbringen die Nacht bei Freunden in Gauting und kehren am nächsten Tag nach Hause zurück. Doch die Unbefangenheit ist vorbei. Schmerzhaft auch der Moment, als die Kinder der Nachbarschaft plötzlich nicht mehr mit ihr spielen dürfen, weil sie Jüdin war. Für das Mädchen damals völlig unverständlich.
»Ich konnte mit dem Wort Jude als kleines Kind nichts anfangen. Es ist mir wie ein Schimpfwort begegnet, aber ich habe mir nicht vorstellen können, was ich angestellt haben sollte«, erinnert sich Knobloch, die erst verstand, nachdem ihre Großmutter ihr alles erklärte.
Überhaupt die Großmutter - für das Mädchen einer der wichtigsten Menschen. Als Charlotte vier Jahre alt war, verließ die Mutter, die aus Liebe zu Fritz Neuland zum Judentum konvertiert war, die Familie unter dem Druck der Nazis. An ihre Stelle trat die Großmutter. Umso schlimmer, als Albertine Neuland im Juli 1942 deportiert wurde, nach Theresienstadt.
»Sie hat mir gesagt, sie geht jetzt in Kur, aber ich wusste, was das bedeutet. Ich habe sofort zu weinen angefangen und meine Großmutter auch«, sagt Knobloch über den Abschied damals. Sie sollten sich in der Tat nicht wiedersehen. 1944 verhungerte Albertine Neuland.
Charlotte Knobloch überlebte den Holocaust in Mittelfranken. Die Hausangestellte Kreszentia Hummel nahm die Neunjährige mit in ihre Heimat in Arberg und gab sie als ihr uneheliches Kind aus. Nur der katholische Pfarrer wusste Bescheid.
Nach dem Weltkrieg kehrte Knobloch nach München zurück, mit ihrem Vater. Viele Juden hegten Pläne, aus Deutschland auszuwandern, auch Charlotte Knobloch und ihr Ehemann Samuel, den sie 1951 geheiratet hatte. Doch dann kamen ihre drei Kinder auf die Welt, die jüdische Gemeinde in München wuchs und statt auszuwandern ging es nun darum, Jüdinnen und Juden nach all dem Grauen wieder einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen.
Eine Aufgabe, an der Knobloch bis heute unermüdlich arbeitet, von 2006 und 2010 auch als Präsidentin des Zentralrats der Juden. Im Herzen sieht sie sich als Münchner Kindl und ist stolz auf ihre Gemeinde, die größte in Deutschland, wie sie sagt. Aber: »Das Problem ist natürlich, dass der Judenhass geblieben ist, da mache ich mir schon Sorgen um die junge Generation«, begründet sie ihre Unruhe beim Blick in die Zukunft. »Man muss sich fragen: Wird auch wirklich alles getan, damit das jüdische Leben fortbestehen und sich weiter entwickeln kann?«
Ihr Traum: »Eine Normalität für jüdische Menschen. Ich will, dass sie als Menschen gesehen und nicht nur über die Religion beurteilt werden. Ich will, dass sie keine Angst haben müssen. Und dass diejenigen, die unsere Demokratie spalten und beseitigen wollen, bald wieder von der Bildfläche verschwinden.«
Auch der interreligiöse Dialog ist ihr wichtig, das betont auch der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, der ihr für unerschütterliches Vertrauen in die Kirchen und christlichen Dialogpartner dankte.
Wer sie kennt, den verwundert es nicht, dass Knobloch auch mit 90 noch energisch für ihre Ziele eintritt und etwa Jugendlichen als Zeitzeugin erzählt. »Für mich ist Charlotte Knobloch eine Inspiration und sie zeigt einem wie wichtig es ist, sich mit allem Nachdruck gegen Antisemitismus einzusetzen und alles dafür zu tun, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher fühlen können«, sagt der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). »Davor kann man sich wirklich nur verneigen und den sprichwörtlichen Hut ziehen.«
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schrieb für diese Zeitung in einem Glückwunschtext: »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen in unser Land, ich danke Ihnen für Ihren Einsatz für unser Land«. Wann immer es gelte, die Stimme gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit zu erheben und die immerwährende Verantwortung Deutschlands anzumahnen, »nahm und nimmt Charlotte Knobloch unmissverständlich Stellung«.
Knobloch sei nie bequem gewesen, lobte Zentralrats-Präsident Josef Schuster. Sie nehme den Wandel der Deutschen nicht einfach hin, »sie ist ihr Gewissen«.
Viele Lobesreden - doch an ihrem 90. Geburtstag, sagte Knobloch Mitte dieser Woche, will sie erst mal feiern, in der Familie, mit allen Kindern und möglichst vielen Enkeln und Urenkeln. Genaue Pläne kennt Knobloch nicht.
»Man will mir zur Feier eine Überraschung machen«, sagt sie und hat auch gleich einen Wunsch angesichts von Krieg, Konflikten und Spannungen. »Ich hoffe sehr, dass wir diese schwierigen Zeiten hinter uns lassen und wieder zu einem Leben frei von Angst zurückkehren können.«