Eine Dreiviertelstunde vor der Eröffnung setzte strömender Regen ein. Und die Reden gegen Antisemitismus im Potsdamer Hans Otto Theater von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, Brandenburgs Wissenschaftsministerin Manja Schüle und Berlins Bürgermeisterin und Senatorin Franziska Giffey am Dienstagabend waren nötig, aber insgesamt lang.
Doch mit der Tragikomödie A Good Jewish Boy von Noé Debré, dem Langfilmdebüt des Franzosen als Regisseur, wurden die Gäste mehr als entschädigt (übrigens auch durch den Auftritt der Band Sistanagila mit der Sängerin Luna Cavari, die im Iran geboren wurde). Es war ein Film, der mitten ins Herz traf, wie viele beim anschließenden Empfang sagten. Vielleicht war es der beste Eröffnungsfilm des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg in den 30 Jahren seiner Geschichte.
Der Held des Films ist ein Tagträumer
Held des Films ist Ruben Bellisha (Michael Zindel) – ein Tagträumer, der in einer Pariser Banlieue zusammen mit seiner nierenkranken Mutter Giselle (Agnès Jaoui) wohnt. Der 26-Jährige lebt in den Tag hinein und tut nichts, was eine jüdische Mutter von ihrem Sohn erwarten würde: Weder studiert er noch geht er einem »anständigen« Job nach, und statt sich ein nettes jüdisches Mädchen zu suchen, pflegt er eine Affäre mit der Frau des arabischen Nachbarn.
Der Film beginnt mit einem Blick von oben auf den Markt in der Banlieue. Belllisha, mit einem Einkaufstrolley unterwegs, besorgt Lebensmittel und will im Koscher-Laden ein koscheres Huhn kaufen. Doch nach vielen anderen Juden sind auch die Betreiber des Feinkostladens dabei, ihre Koffer zu packen, um die Gegend zu verlassen. Notgedrungen weicht Bellisha auf den Halal-Metzger aus, eine Entscheidung, die seiner observanten Mutter nicht entgeht. Sie zwingt ihren Sohn, das gesamte Geschirr neu zu kaschern. Dies tut der junge Mann widerwillig an einem Fluss – und erregt beim Eintauchen der Bratpfanne öffentliches Ärgernis.
Es ist eine Tragikomödie, denn Bellisha und seine Mutter sind die letzten verbliebenden Juden in der Banlieue – alle anderen sind umgezogen oder ausgewandert. Die Synagoge ist geschlossen und wird nur geöffnet, wenn sich Lokalpolitiker mit Alibijuden (das heißt, mit Bellisha) fotografieren lassen. Überdies unterhält die Banlieue eine Städtepartnerschaft mit Dschenin.
Grassierender Antisemitismus und Realitätsverweigerung
Den grassierenden Antisemitismus pariert Bellisha mit konsequenter Realitätsverweigerung: Als an die Wohnungstür »Zionist« geschrieben und im Treppenhaus herumgegrölt wird, erklärt er seiner Mutter, es handele sich um einen Wasserrohrbruch. Bei anderen Gelegenheiten gaukelt er ihr vor, er betreibe den israelischen Kampfsport Krav Maga.
Die wohl krasseste Szene zeigt, wie Einbrecher in die Wohnung eindringen, weil sie hoffen, bei Juden Geld zu finden, und eine Parole über die Schoa an die Wand im Wohnzimmer schmieren. Doch Bellisha hängt über das Menetekel das Porträt eines jüdischen Abgeordneten, damit seine Mutter nichts merkt, und lässt sich in seiner optimistisch-fatalistischen Haltung nicht erschüttern.
Vielleicht ist dieser spezielle jüdische Humor auch deswegen so gelungen, weil Regisseur Noé Debré – wie er Moderatorin Shelly Kupferberg auf der Bühne sagte – einen solchen Film ursprünglich gar nicht drehen wollte. Im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen erläuterte Debré (bekannt auch als Regisseur der EU-Politserie Parlament, die auf Netflix zu sehen ist), Filme über Identitäten fände er langweilig – alles sei heutzutage so identitätslastig.
Mal schelmisch, mal todernst
Doch dann sei er auf den Schauspieler Michael Zindel mit seiner Charles-Chaplin-ähnlichen Art gestoßen. »Und ich dachte, mit ihm wäre es kein Film über Juden, sondern ein Film über diese Figur.« In der Tat verfügt Zindel mit seinem mal schelmischen, mal todernsten Gesichtsausdruck über eine mimische und schauspielerische Bandbreite, die das Werk mehr als trägt.
Für ihn sei Antisemitismus das Setting, aber nicht Thema seines Spielfilms, sagt Debré. Inspiriert habe ihn eine Szene aus dem Kurzfilm Masel Tov Cocktail von Arkadij Khaet in einer Hochhausgegend. Dabei sei ihm klar geworden, dass es keinen Film über französische Juden in den Banlieues gebe.
Wie sieht er die Situation der Juden in Frankreich? Noé Debré holt aus: »Ich bin Franzose. Überall, wo ich hingehe, werde ich ein Franzose im Exil sein. Als ich den Film heute Abend in Deutschland auf der Leinwand gesehen habe, wurde mir klar, dass er davon handelt, wann die beste Zeit ist, zu gehen. Jeder Jude denkt an einem bestimmten Punkt über diese Frage nach – und auch darüber, wohin er gehen sollte. Diese Frage hängt nicht nur über dem Film, sondern über unserer Psyche.«
Und wieder kommt er auf Charlie Chaplin zu sprechen: »Zum Schluss seines Films Der große Diktator sind die Juden nach Polen gegangen. Das ist sehr ironisch, dass sie sich ausgerechnet dort sicher fühlten. Sie haben nach der Zukunft der französischen Juden gefragt? Wir wissen nicht, was passieren wird. Wir wissen es nicht.«
Eine einzigartige Melange aus Schmerz und Leichtigkeit: A Good Jewish Boy lief Ende Januar in den französischen Kinos an. Es ist sehr zu hoffen, dass dieser Film auch in Deutschland bald ein großes Publikum findet.