Porträt der Woche

Chapeau!

»Schon mein Vater besaß mehrere Oldtimer. Diese Leidenschaft habe ich von ihm geerbt«: Riwka Chalut Foto: Jan-Christoph Hartung

Porträt der Woche

Chapeau!

Riwka Chalut mag Hüte, Oldtimer und arbeitete 28 Jahre in den »Galeries Lafayette«

von Christine Schmitt  06.04.2025 08:21 Uhr

Die Berliner Friedrichstraße mag ich nicht mehr betreten, sie ist eine No-go-Area für mich geworden. 28 Jahre lang war ich an mindestens fünf Tagen in der Woche dort, ich habe in den »Galeries Lafayette« gearbeitet. Bis ich eines Morgens aus der Presse erfuhr, dass das Kaufhaus schließen muss und darüber nachgedacht wird, dort eine Bibliothek unterzubringen.

Ich war geschockt – wie alle anderen Mitarbeiter auch. Niemand hatte etwas geahnt, und es war schrecklich, auf diese Weise vom baldigen Ende zu erfahren. Es gab auch keinen alternativen Standort. Am 3. Oktober 2023 wurde uns mitgeteilt, dass das Kaufhaus Ende Juli 2024 endgültig schließen würde. Im vergangenen Sommer kam dann der Moment, an dem wir von den Galeries Abschied nahmen. Meiner Meinung nach musste Lafayette aufgeben, weil es kein Konzept für eine sinnvolle Gestaltung der Friedrichstraße gab.

Vor knapp 28 Jahren also fing ich dort an. Damals suchte ich einen Job, um mein Studium zu finanzieren. So kam es, dass ich von der ersten Sekunde der »Galeries Lafayette« an dabei war. Die Handtaschenabteilung war meine erste Station, dann wurde ich Assistentin der Leitung in der Gourmetabteilung und später Assistentin der Geschäftsleitung. Meinen Freund habe ich vor Jahren über meine Arbeit kennengelernt, denn er ist Mitarbeiter beim Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt – dort hatte Lafayette auch immer einen Stand. So haben wir uns getroffen. Meine Arbeitswoche hatte damals selten nur 40 Stunden. Heute spüre ich, wie anstrengend meine Tätigkeit war.

Meine Oma war Modistin, eine Damen-Hutmacherin in dritter Generation

Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, sage ich immer: aus der Stadt, in der der Reifenhersteller Michelin seinen Hauptsitz hat. Clermont-Ferrand liegt gut 400 Kilometer von Paris entfernt im Süden Frankreichs. Die Stadt zählt zwar nur rund 145.000 Einwohner, aber es gibt eine kleine Synagoge und eine jüdische Community. Dort wuchs ich mit meinen Großeltern und meinen Eltern auf. Mein Vater schraubte ständig an Autos herum, er besaß vier, fünf Oldtimer. Meine Oma war Modistin, eine Damen-Hutmacherin in dritter Generation. Aus Filz, Stroh und Stoffen fertigte sie modische Kopfbedeckungen wie Hüte, Mützen und Kappen an.

Nach ihrem Tod wurde unser Mehrgenerationenhaus verkauft, wir zogen um. Meine Mutter schmiss die Hutmacher-Utensilien wie Schnittmuster und etliche Holzköpfe verschiedener Größen weg. Heute bedauere ich das sehr, denn ich könnte sie gut gebrauchen.

Zur selben Zeit reiste ich als 14-Jährige zum ersten Mal nach Deutschland, nach Regensburg, in die Partnerstadt von Clermont-Ferrand.

Irgendwann entwarf ich selbst Hüte. Ob Filzhüte oder gehäkelt, es macht mir Freude.

Mir gefiel das Land so gut, dass es mich nach meinem Schulabschluss als Au-pair-Mädchen nach Hamburg zog. Ich kam in eine eher wohlsituierte Familie und blieb zwei Jahre. Noch heute bin ich mit ihr in Kontakt. Damals musste ich mich um die mittlerweile erwachsenen Kinder kümmern, sie von der Schule abholen oder abends auf sie aufpassen. Ich hatte genug Zeit, Deutsch zu lernen.

Nach den zwei Jahren als Au-pair-Mädchen fragte ich mich, was ich beruflich machen möchte.

Schiffsmechanikerin und Hotelfachfrau

Da ich mich sehr für Schiffe interessiere, hätte ich mich gern zur Schiffsmechanikerin ausbilden lassen. Damals wäre ich in Deutschland die dritte Frau gewesen, die diesen Beruf ergreift. Aber mein Vater legte ein Veto ein – so wurde ich erst einmal Hotelfachfrau. Doch ich wusste, dass ich noch studieren wollte.

Vor allem das Fach Geschichte wirkte wie ein Magnet auf mich. Mir war bewusst, dass meine Eltern mich finanziell nur wenig unterstützen konnten, weshalb ich mir einen Job suchte. So landete ich bei der telefonischen Auslandsauskunft, die damals noch in Hamburg ihren Sitz hatte. Da ich mehrere Sprachen beherrsche, war ich qualifiziert. Kurz darauf wurde die Auslandsauskunft nach Berlin verlegt.

Wir Studenten, die dort jobbten, wurden gefragt, ob wir mit umziehen würden. Wir sagten Ja. Zu zehnt saßen wir an den Telefonen und mussten in den jeweiligen Ländern anrufen, um dort Kollegen zu bitten, die Telefonnummern der gewünschten Ansprechpartner herauszusuchen. So war das damals. Heute ist das unvorstellbar. Jeder von uns hatte seine Lieblingsländer, meines war Australien, und mit der Zeit kannte man die dortigen Mitarbeiter. Wir waren eine tolle Truppe.

Das Internet machte die Auslandsauskunft schließlich überflüssig

An der Uni in Potsdam konnte ich mich weiter der Geschichte und den Jüdischen Studien widmen. Aber ich mochte lieber in Berlin wohnen. Und natürlich war die Stadt so aufregend, dass wir nachts um die Häuser zogen. Das Internet machte die Auslandsauskunft schließlich überflüssig, wir erhielten eine Abfindung, und ich fing in den Galeries Lafayette an.

Vor ein paar Jahren entdeckte ich meine Leidenschaft für Hüte. Ich trage selbst welche, am liebsten Hüte aus den 50er-Jahren. Meine Schränke sind voll davon. Irgendwann fing ich an, Modelle zu entwerfen. Ob Filzhüte, Sommerhüte oder gehäkelte – es bringt mir Freude. Wenn ich mich langweile, dann häkele ich mir einen Hut. Ich nenne sie liebevoll »Die Häkel­abteilung vom Sofa«.

Für Hüte, die ich aus Sinamay-Fasern anfertige, brauche ich Wochen, denn sie sind sehr arbeitsintensiv.

Für Hüte, die ich aus Sinamay-Fasern anfertige, brauche ich Wochen, denn sie sind sehr arbeitsintensiv. Dazu kommen kleine Taschen und Körbchen aus unterschiedlichen Materialien.
Am liebsten würde ich sie in einer Boutique an die Frau bringen, aber einen kleinen Laden kann ich mir nicht leisten.

So bleiben der Flohmarkt und der Chanukka- Basar. Auf Letzterem bin ich in jüngster Zeit mit einem Stand in der Synagoge Pestalozzistraße vertreten, denn ich fühle mich mit ihr sehr verbunden. Früher, als Rabbi Ernst Stein sel. A. noch amtierte, besuchte ich fast jeden Freitag und Samstag die Gottesdienste und den Kiddusch. Die Synagoge war mein zweites Zuhause.

Mittlerweile steht ein Cabrio-Oldtimer in der Garage

Mein Herz schlägt auch für Oldtimer. In meiner Wohnung habe ich auf der Fensterbank kleine Modell-Oldtimer geparkt. So einen schicken schwarzen Citroën, der die Reihe anführt, habe ich einmal in Originalgröße besessen. Mittlerweile steht ein Cabrio-Oldtimer in der Garage, mein alter Mercedes hingegen vor meiner Haustür. Den Mercedes-Stern nehme ich immer mit und stecke ihn auf die Motorhaube, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin.

Diese Begeisterung habe ich wohl von meinem Vater geerbt. Leider ist er nicht alt geworden. Und auch meine Mutter ist mittlerweile gestorben, sodass es für mich nicht mehr allzu viele Anlaufstellen in meiner alten Heimat gibt. Ich bin ein Einzelkind, aber habe noch einige Cousins und Cousinen. Als meine Mutter noch lebte, bin ich etwa zweimal im Jahr zu ihr gefahren. Aber ich hatte kein Heimweh.

Obwohl ich Französin und mittlerweile auch Deutsche bin, mag ich lieber Tee als Kaffee. Am allerliebsten in Kombination mit einem Zitronentörtchen. Was mir aber fehlt, seitdem das Lafayette nicht mehr ist, ist guter Käse. Und das Gefühl eines großen Kosmos. Heute genieße ich das Leben. Ich habe jeden Tag viel vor, verabrede mich mit Freunden, zerbreche mir den Kopf, was ich mit den Hüten machen kann.

Auf meine Strick- und Häkelgruppe freue ich mich immer, ebenfalls auf den Besuch von schönen Ausstellungen. Alles etwas ruhiger anzugehen, ist schön. Die Arbeitspause hat mir gutgetan, aber jetzt würde ich gern wieder arbeiten, am liebsten im kreativen Bereich.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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