Die zweite Welle der Corona-Pandemie wirkt sich nun auch auf die noch bis zum 15. November stattfindenden Jüdischen Kulturwochen der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart aus: keine Präsenzveranstaltungen, stattdessen Livestream und »Zoom«-Konferenzen.
Die digitale Alternative erweist sich für die Künstler in der Kunstschule Inessa Magero der IRGW als Vorteil. Sie hatten sich schon sehr darauf gefreut, ihre Werke im Stuttgarter Rathaus präsentieren zu dürfen, und nun wird ihnen sogar eine bundesweite Galerie geboten: Ihre 126 Bilder und Werke sind vom 5. bis zum 15. November im Netz unter www.irgw.de/kulturwochen zu bewundern.
Die Künstler kamen aus St. Petersburg, Jekaterinenburg, Odessa und Kiew nach Deutschland und waren von Beruf Ingenieure, Techniker, Mathematiker, Computerspezialisten oder Lehrer. Sich in der Freizeit als Hobbymaler oder in einer anderen künstlerischen Technik zu versuchen, war keinem von ihnen in den Sinn gekommen. Ihr Potenzial an Talent und Kreativität entdeckten sie erst in Stuttgart, in späten Jahren und einem neuen Zuhause in der jüdischen Gemeinde, in der die Kunst- und Handarbeitslehrerin Inessa Magero vor zwölf Jahren die Kunstschule gründete.
Wüstenlandschaft Nicht frei von Lampenfieber haben sich die Künstler zu den Kulturtagen der Herausforderung gestellt, vor den Augen einer großen Öffentlichkeit zu bestehen. Auf der Staffelei von Olga Vaks steht ein großes Ölbild einer Wüstenlandschaft in abgestimmten Braun- und Ockertönen, mit winzigen Kamelen im Vordergrund.
»Ihre Talente und Kreativität waren für mich eine große Überraschung«, sagt Kunstschulleiterin Inessa Magero.
Jüdisches Leben heißt die Vorgabe für das Thema der Ausstellung. »Was die Freiheit der Künstler und ihrer Motive aber nicht einschränken soll«, erklärt die Lehrerin Inessa Magero. Denn sie weiß sehr gut, dass ihre Kursteilnehmer »ihr Judentum früher gar nicht leben konnten. Die Kunst ist jetzt ein Weg, ihre eigenen Wurzeln zu finden und zu entdecken«. Sie selbst stammt aus Witebsk, der Stadt, in der der Maler Marc Chagall (1887–1985) zu Hause war. Sie studierte unter anderem an der dortigen Kunstschule.
Chagalls Erbe gibt Magero nun an Schüler weiter, die sich zuvor noch nie mit Pinsel und Farbe oder anderen künstlerischen Techniken versucht hatten. »Ihre Talente und Kreativität waren für mich eine große Überraschung.«
Religion Elena Mogindovit, 72 Jahre alt, aus St. Petersburg und von Beruf Ingenieurin, stellt die Flucht der Juden aus Ägypten dar. »Ich habe großes Interesse an der Religion«, sagt sie. Und die 83-jährige Mila Rozhkova aus Jekaterinenburg, von Beruf Rundfunkingenieurin, zeichnete eine Klezmergruppe. Musik ist ihre zweite große Leidenschaft. Stolz erzählt sie, dass ihr Sohn und seine Frau, die in Karlsruhe leben, ebenfalls Musiker und Sänger sind.
Weitere Materialien sind Batik, Glasmosaik, Teppich- und Serviettentechnik. Und wenn man Swetlana Stolyar über die Schulter guckt, erlebt man staunend, dass aus Filz sehr viel mehr entsteht als eine Bastelei. »Sie hat goldene Hände«, rühmt Inessa Magero die ehemalige Mathematik-
lehrerin aus Odessa. Denn die 71-Jährige zerrupft das dichte Gewebe zu hauchdünnen Fäden und »malt« mit diesen wolkenartigen Gespinsten ein blaues Meer.
Auch Esther Epshteyn arbeitet an einer Collage: ein Dorf mit Häuschen, dazu ein Garten voller Blumen. Der Zaun fehlt ebenso wenig wie die Menschen, und darüber schwebt auf einer Wolke das goldene Jerusalem. Chagall lässt grüßen. Die 80-Jährige stammt aus Kiew, absolvierte die Universität von Nischni Nowgorod und arbeitete als Programmiererin.
Gemeinschaftserlebnis Die Katze in der dörflichen Szenerie steuerte Wladimir Neumaier bei, dessen kleine Skulpturen, zum Beispiel ein Rabbi, museumsreif sind. Der 67-jährige Ingenieur aus der Ukraine ist einer von nur vier Männern in den drei Gruppen der Kunstschule. Corona hat die Runde dezimiert. Die Abstandsregeln lassen nur noch sechs Teilnehmer pro Gruppe zu, der Verzicht tut weh. »Es geht um das Gemeinschaftserlebnis«, sagt Inessa Magero. »Diese Menschen sind seit ihrem Zuzug nach Deutschland teilweise allein, vereinsamt und haben keine Familie mehr. Darum ist das Erfolgserlebnis so wichtig.«
Das ist auch der Grund, warum Dagmar Bluthardt, die Leiterin der Sozialabteilung, diese Kurse vor zwölf Jahren initiiert und dafür die Unterstützung vom Vorstand der IRGW bekommen hat. »Die Atmosphäre hier ist so wunderbar«, schwärmen alle und wünschen sich, »dass eine vierte Gruppe eingerichtet wird«.
Inessa Magero hofft auf große Resonanz. Denn es lohnt sich, diese Künstler zu entdecken.