Porträt der Woche

Buchstaben und Noten

Dimitri Dragilew ist Dichter und widmet sich als Pianist auch russischen Komponisten

von Christine Schmitt  27.09.2022 21:26 Uhr

»Die eigene Sichtbarkeit ist mir weniger wichtig als die Kreativität«: Dimitri Dragilev (51) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Dimitri Dragilew ist Dichter und widmet sich als Pianist auch russischen Komponisten

von Christine Schmitt  27.09.2022 21:26 Uhr

Auf eine Antwort musste ich nicht lange warten. Kurz nachdem ich die Briefe an Karel Gott abgeschickt hatte, kam Post von ihm. Keine Ahnung, was ich ihm als Sechsjähriger mitteilen wollte, wahrscheinlich, dass ich seine Musik mag. Es schien auch normal, dass er mir in meiner Sprache zurückschrieb, schließlich waren seine russischen Aufnahmen bekannt. Ich merkte aber nicht, dass die Handschrift der Briefe sehr nach der meines Großvaters aussah.

Mit dem Lesen, Schreiben und Komponieren fing es für mich bereits ein paar Jahre davor an, zumindest meint meine Mutter das. Bereits als kleiner Junge hörte ich Schallplatten, auf denen russische Dichter ihre berühmten Gedichte extra für Kinder eingesprochen haben. Das hat mich geprägt. Meine Mutter ist Pianistin – ihr Klavier hat sie sogar aus Lettland mit nach Deutschland genommen, als wir emigrierten.

aufnahmeprüfung Ich gehörte zu ihren Schülern und lernte schon sehr früh das Klavierspiel, sodass ich im Alter von sechs Jahren die Aufnahmeprüfung für die Spezialmusikschule bestand. Seitdem begleiten mich meine beiden Leidenschaften, Musik und Sprache, täglich. Das führte irgendwann zu der perfekten Kombination, zwei Bücher über verfolgte Musiker zu schreiben. Eines über den deutsch-jüdischen Trompeter Eddie Rosner, im anderen steht Oskar Strock im Mittelpunkt, ebenfalls ein jüdischer Komponist. Beide lebten zwischenzeitlich in Berlin.

Zunächst jedoch habe ich meine eigenen Melodien bezwingen müssen, da sie am Anfang stets zusammen mit den Worten in meinem Kopf auftauchten. Es ist immer ein Risiko, wenn aus Gedichten lediglich Lieder werden können. Als ich etwa 14 Jahre alt war, druckte die Lettische Jugendzeitung eines ab. Da war ich natürlich stolz. Aber die eigene Sichtbarkeit ist mir weniger wichtig als die Kreativität und natürlich die Notwendigkeit, dem inneren Ruf zu folgen.

Unsere Band bleibt ihrem Credo treu und spielt
russischen Swing.

Meine Mutter wurde in Riga in Lettland geboren, ich 1971 ebenso. Allerdings hatte sie nach 1991 keine Chance, eine Staatsbürgerschaft zu bekommen, weil wir Ende der 80er-Jahre nach Kanada emigriert, aber nach einem kurzen Intermezzo zurückgekommen waren. Meine Eltern hatten sich da schon getrennt. Wir konnten uns nirgendwo mehr registrieren lassen und lebten somit illegal in unserer Heimat. Dennoch durfte ich mein Geschichtsstudium, das ich nach der Schule begonnen hatte, fortsetzen.

nachwuchsautoren Zudem bin ich Mitglied des Studios für Nachwuchsautoren des lettischen Schriftstellerverbands geworden, konnte auf einige Veröffentlichungen bereits zurückblicken, engagierte mich für die russische Redaktion des Staatlichen Rundfunks, leitete Jazz-Bands und ein Jugendschauorchester. Da waren sie wieder: Buchstaben und Noten.

Doch wie kann man in der Illegalität glücklich sein? Meine Mutter stellte 1994 dann einen Ausreiseantrag für uns nach Deutschland – mit dem ich allerdings nicht einverstanden war, denn ich wollte lieber in Lettland bleiben: Einige Projekte waren gerade zustande gekommen oder liefen schon, andere warteten auf ihre Umsetzung. Damit war dann Schluss – zumindest schien es so. Vor unserer Haustür fuhr ein Umzugswagen vor, und die Möbelpacker verstauten unsere Sachen auf der Ladefläche. Es ging nach Thüringen. Mitten im Herbst kamen wir an einem Regentag an. Das Klavier lag auf dem Anhänger, und wir hatten Angst, dass es die Fahrt und Nässe nicht überleben würde.

Zuerst wurden wir in einem Wohnheim auf dem Land in der Nähe von Bad Langensalza untergebracht. Wir lernten Deutsch – und ich hatte Glück, schließlich an der Musikhochschule in Weimar und an der Uni Jena studieren zu dürfen. Etwas später sind wir nach Erfurt gezogen, wo meine Mutter heute noch arbeitet. Und wo nun das alte Klavier steht. Die Städte liegen alle sehr nah beieinander, sodass ich bequem alle Lehrveranstaltungen und Unterrichtsstunden wahrnehmen konnte. Mit einem Magister-Abschluss war meine Studienzeit zu Ende.

radio Das Radio ließ mich nicht los, weshalb ich mich in Erfurt auch um die Belange eines neuen Rundfunkmagazins in russischer Sprache kümmerte, das ich mit aufbaute. Später begann die Zusammenarbeit mit dem russischsprachigen »Radio Golos Berlina« (»Stimme von Berlin«).

Erfurt ist eine sehr feine und fast idyllische Stadt. Diverse Umstände haben mich aber nach Berlin verschlagen.

Erfurt ist eine sehr feine und fast idyllische Stadt. Diverse Umstände haben mich aber nach Berlin verschlagen. Kooperationen mit neuen und alten Kollegen, die auch hierherzogen, führten zu einer neuen Optik. Unter dem Namen »The Swinging PartYsans« bringen wir das Werk und die Tradition des »Zaren des sowjetischen Jazz« Eddie Rosner zum musikalischen Ausdruck. Rosner war ein Ausnahmetalent Berliner Provenienz, der Deutschland infolge des Nazi-Terrors verlassen musste. Gestrandet 1939 in der UdSSR, wurde er jedoch sehr bald als »Westler« gebrandmarkt und mit Aufführungsverboten belegt.

Schon mal etwas vom russischen Swing gehört? Ähnlich wie in den USA oder in Europa zählen viele Juden zu den wichtigsten Vertretern. Die Geschichte begann genau vor 100 Jahren, als der Dichter Valentin Parnach Jazz aus Berlin nach Moskau brachte. Unsere Band bleibt ihrem Credo treu: Selbst wenn Ohrwürmer aus dem Great American Songbook gefragt sind, werden diese immer von osteuropäischen, vor allem russischen Swingstücken und Songs flankiert. Grund genug, ein Eddie-Rosner-Jazzfestival zu initiieren, was auch geschah.

kulturprogramm Was Oskar Strock angeht, so entwickelte ich zuerst ein Programm für Klavier und Gesang, woran auch der Zentralrat der Juden in Deutschland interessiert war, und wir wurden in dessen Kulturprogramm aufgenommen. Das Projekt »Impuls« lud mich ein, das Programm in der Oranienburger Straße vorzustellen. Schließlich gingen wir damit auf Tournee. Tenor Nicola David, der heute in der Liberalen Jüdischen Gemeinde München Kantor ist, agierte mit.

Ebenso habe ich die Kapelle Strock initiiert, die die Werke von Oskar Strock spielt, dessen Name sowohl mit Riga und Berlin als auch mit Russland in Verbindung steht. Er gilt als russischer Tango-König. Strock schrieb knapp 50 Tangos, die einst in allen großen Städten aufgeführt wurden: In Helsinki und Warschau waren sie gleichermaßen zu hören, ob in Gasthäusern und Cafés oder in Konzertsälen und Tanzlokalen.

Die Verbindung nach Lettland bleibt nicht nur dank Strock erhalten: Als Mitglied des lettischen Schriftstellerverbands fahre ich immer wieder nach Riga. Ein Stipendium des Berliner Senats, das vor vier Jahren für nicht Deutsch schreibende Autoren eingeführt wurde, hat mich während der Pandemie finanziell gerettet. Nichtsdestoweniger lebe ich sparsam und brauche nicht viel zum Leben.

schreibtisch Wenn ich den Tag komplett am Schreibtisch verbringe, merke ich nicht, wo die Grenzen sind. Oft bin ich oft gezwungen, mich mit Alltagsprosa zu beschäftigen, zum Beispiel etwas für zwei Vereine zu tun. Ich meine jetzt die Oskar Strock & Eddie Rosner Gesellschaft sowie SLOG – die Vereinigung russischsprachiger Autorinnen und Autoren.

Meine Lyrik wird zur russischen metarealistischen Schule gezählt, zumal ich weiter in meiner Muttersprache schreibe.

Meine Lyrik wird zur russischen metarealistischen Schule gezählt, zumal ich weiter in meiner Muttersprache schreibe. Der Verlag, in dem sie erscheint, hatte einmal die Idee, zwei verschiedene Übersetzer zu bitten, sich der Texte anzunehmen. Einer transkribierte wortwörtlich, der andere hingegen legte seinen Fokus auf den Inhalt. Was soll ich sagen, es kamen verschiedene Gedichte heraus.

Manchmal passiert es, dass ich tagelang nicht dazu komme, Klavier zu spielen. Zu Hause ist wenig Platz, weshalb ich nur ein schmales E-Piano besitze. Wenn ich als Pianist in der Klassik-Szene auftreten würde, hätte das natürlich gar nicht funktionieren können, aber beim Jazz kann man es sich leisten, ein paar Tage die Klavier-Tastatur gegen die des Computers auszutauschen.

PROBENRAUM Die Bands treffen sich auch nicht jede Woche zur Probe, aber regelmäßig und intensiv vor Konzerten. Scheinbar zufällig kommen viele neue Impulse. In meinen Augen gibt es keine Zufälle. Von Erfurt aus zog ich nach Berlin-Moabit. Doch wir fanden einen Probenraum in Weißensee, nicht weit entfernt vom Jüdischen Friedhof. Die Umgebung ist voller Seen. Beim Spazierengehen kann ich mich entspannen und erholen.

Nun wohne ich im Komponistenviertel. Und es tut gut, zumal mich unsere Auftritte oder meine Lesungen immer wieder durch ganz Deutschland führen. Manche Schreibtischtätigkeiten fressen allerdings viel Zeit. Dabei trinke ich gerne Tee. Nicht zuletzt daran und natürlich an die »Five o’clock«-Tanzangelegenheiten dachte ich, als ich meinen ersten Gedichtband Zum Tee um fünf nannte.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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