Am 30. April jährte sich der Todestag von Paul Spiegel zum zehnten Mal. In diesem Jahr war das der 8. Tag Pessach, an dem das Jiskor-Gebet gesprochen wird. Es war Schabbat, und am Schabbat sollen wir nicht trauern. Aber wie lässt sich das Jiskor-Gebet mit dem Nicht-Trauern vereinbaren? Für mich bedeutet Jiskor »Gedenke« – das hilft.
Obwohl der jüdische Todestag der 2. Ijar ist, ist der 30. April 2006 bei mir wesentlich präsenter als das Datum unserer religiösen Zeitrechnung. Das hat wohl – so denke ich – mit unserem Leben in der Diaspora zu tun, da wir unsere Termine und Veranstaltungen nach dem gregorianischen Kalender ausrichten.
krankheit Die letzten Monate vor seinem Tod, sie waren wie Wechselbäder. So abrupt sollte eine Freundschaft, die 1958 begonnen hatte, enden, unwiderruflich? Unsere gemeinsame Jugend, die Gründungen unserer beider Familien, das tägliche Miteinander – in persönlichen Begegnungen oder am Telefon. Alles veränderte sich in den letzten Monaten durch diese schreckliche Krankheit, und ich traute mich kaum noch, die Frage zu stellen: »Wie geht es dir heute?« Zu wissen, dass die Antwort nicht der Wahrheit entsprach.
Am 30. April 2006 war sein Leiden beendet. Der Kämpfer, unser Kämpfer, der sich nicht schonte, immer ansprechbar war, wenn sein Rat und seine Hilfe benötigt wurden, musste loslassen, obwohl er noch vieles vorhatte. Als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, als Brückenbauer zur nichtjüdischen deutschen, aber auch zur internationalen Öffentlichkeit, als Ehemann, Vater und Freund unserer Familien. Es bleibt mir in Erinnerung, dass unsere erwachsene Tochter Nicole ihn immer, bis zuletzt, Onkel Paul genannt hatte, während unsere Söhne ihn stets beim Vornamen nannten.
überleben Paul hatte in Belgien überlebt, als Kleinkind, wie durch ein Wunder. Nichtjüdische Belgier hatten ihr Leben für ihn riskiert. Seine Mutter Ruth hatte die Nazizeit ebenfalls in Belgien überstanden, der Vater Hugo Spiegel wurde aus dem KZ Dachau befreit. Paul hat die Ermordung seiner Schwester Roselchen durch die Nazis nie verkraftet. Den mutigen belgischen »Ersatz-Eltern« hatte er bis zu deren Lebensende die Ehre erwiesen.
Mich hat er in die jüdische Gemeindearbeit buchstäblich hineingezogen. Erst Jugendzentrum in einem provisorischen Raum, den die Jüdische Gemeinde Düsseldorf in der Eisenstraße angemietet hatte, bis in der Zietenstraße nach 1960 eigene Räume gefunden waren. Dann Anfang der 70er-Jahre die Kandidatur zum Gemeinderat. Das wurde, wie unsere Kinder sagten, mein erstes Zuhause! In vielen Bereichen des Gemeindelebens, des Landesverbandes, der zahlreichen jüdischen Organisationen, eine gemeinsame Straße, nicht immer einer Meinung, aber mit gleicher Zielsetzung, mit gegenseitigem Vertrauen bis ins kleinste Detail.
generationen Ein gemeinsames Leben der Familien Spiegel und Rubinstein, bis 2006 fast 50 Jahre, füllt Bände. Die nächsten beiderseitigen Generationen und ihre Nachkommen führen diese engen Verbindungen weiter, allerdings nicht mehr von Düsseldorf aus, sondern aus den unterschiedlichen Wohnsitzen in Europa. Paul würde sich darüber freuen, hat er doch maßgeblich dazu beigetragen.
Alles begann in Warendorf, einer Kleinstadt in Westfalen. Gisèle Spatz-Spiegel aus Lyon, Ruthi Löwendahl-Rubinstein aus Tel Aviv, anschließend Köln, ich aus Czernowitz und später Amsterdam, Paul Spiegel aus Warendorf. Gibt es Zufälle, oder wie lässt sich erklären, dass wir uns alle in Düsseldorf kennenlernten, in Deutschland, und Judentum mit aufgebaut haben?
Ich begann mit »Gedenke«. An gute, frohe und traurige Anlässe. Das geschieht nicht nur an einem 30. April.
Herbert Rubinstein war von 1996 bis 2008 Geschäftsführer und Vertreter des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein.