Eine ziemliche Herausforderung hatte Andreas Bönte, stellvertretender Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, am Donnerstag der vorvergangenen Woche zu meistern. Unter dem Motto »Musik im Dialog« sollte er das traumabesetzte Thema »75 Jahre Leningrader Blockade« mit zwei Zeitzeugen des gleichen Jahrgangs, die auf sehr unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen der NS-Zeit gelitten haben, erörtern.
Beide Gesprächspartner sind zwar keine Historiker, aber Persönlichkeiten, die in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern Geschichte geschrieben haben. Und das Thema Musik durfte dabei auch nicht zu kurz kommen.
DP-Kinder Um es vorwegzunehmen, die praktische Umsetzung glückte hervorragend – sehr zur Freude der Organisatorin Doris M. Pospischil, die schon im Jahr 2018 die Künstlerin Anne-Sophie Mutter in St. Ottilien präsentieren konnte, wo zwischen 1945 und 1948 mehr als 400 jüdische DP-Kinder geboren wurden. Mit ihrem Verein »Kultur am Ammersee e.V.« stellte sie dem diesjährigen Konzert mit dem Tschaikowsky Symphonieorchester unter Leitung von Vladimir Fedoseyev einen Abend im Jüdischen Gemeindezentrum voran, umrahmt von einem Quartett.
Hier sollte der Dirigent Fedoseyev, bekennender Tschaikowsky-Fan, statt Musik Worte finden für das, was seine Kindheit überschattete. Er tat dies auf Russisch, konsekutiv übersetzt für das teilweise nicht russischsprachige Publikum.
Auch Charlotte Knobloch, geborene Neuland, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, stand vor der emotional schwierigen Aufgabe, sich an ihre Kindheit zu erinnern.
Im Jahr 1941 waren beide Zeitzeugen neun Jahre alt.
lebensmut Im Jahr 1941 waren beide Zeitzeugen neun Jahre alt. Fedoseyev blieb zu Hause. Jeder Tag während der Blockade war ein Kampf um Essen und Trinken. Es war lebensgefährlich, zumal für ein Kind, sich draußen aufzuhalten. »Menschen verschwanden«, erklärte der Dirigent, dessen erstes Instrument das väterliche Akkordeon war. Mit ihm trat er später im Lazarett auf, wo er schwer verwundeten Soldaten durch seine Musik den Lebensmut zurückgeben wollte.
Zu diesem Zeitpunkt war die kleine Charlotte dank ihres Vaters mit falscher Identität bereits auf einem fränkischen Bauernhof untergetaucht. Dort hörte sie regelmäßig Radio und verstand, dass die »Freigabe« Leningrads eine deutsche Niederlage bedeutete.
Nach München zurückkehren wollte sie nach der Befreiung jedoch nicht. Die Vorstellung, den Menschen, die sie wenige Jahre zuvor mit Hass und Beleidigungen überzogen hatten, wiederzubegegnen, erschien ihr unerträglich.
befreiung Fedoseyev, seit mehr als 40 Jahren Chefdirigent des Moskauer Symphonieorchesters und musikalisch in der ganzen Welt unterwegs, erinnert sich, dass selbst während der Leningrader Blockade, die über eine Million Menschen das Leben kostete, ein vielfältiges Kulturleben stattfand. Und Charlotte Knobloch, die Beethovens 9. Sinfonie liebt, ergänzte dies mit einem Hinweis auf den Neubeginn nach der Auflösung der Konzentrationslager, als Überlebende unmittelbar nach der Befreiung Konzerte und Theaterdarbietungen organisierten.
Einen besonderen kulturellen Impuls habe das jüdische Gemeindeleben ab den 90er-Jahren durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion erhalten. So gebe es gleich mehrere Chöre. Der Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle war auf diesen Aspekt in seinem Grußwort bereits zu Beginn des Abends eingegangen: »In der Sprache der Musik werden Zeichen der Versöhnung gesetzt.«