Ich war das einzige jüdische Mädchen an meiner Schule. 1947 geboren, wuchs ich in Crosby, Minnesota (USA) auf, weitab von jeglichen jüdischen Einrichtungen. Ich bin dankbar, dass meine Eltern jedenfalls daheim ein wenig Jiddischkeit bewahrten: Kerzen, Wein und Challe aus dem weit entfernten St. Paul und einige wenige Feiertagstraditionen. Mit jüdischen Freunden aus dem benachbarten Brainerd feierten wir Pessach und Chanukka, aber an Jom Kippur blieben wir einfach zu Hause.
Als ich klein war, bekam ich zumindest Einblick in das Leben, das die ehemals fromme Familie meines Vaters geführt hatte. Mein Großvater betete jeden Tag. Zum Taschlich gingen wir mit ihm an den See, und ich erinnere mich, wie er Kiddusch beging und »Slach lanu« sang – eine der ersten Melodien, die ich lernte.
Rätsel Jedoch bestand meine jüdische Identität insbesondere darin, dass wir – in diesem multikulturellen Bergbaugebiet – keiner der zahlreichen religiösen Gruppierungen angehörten. Warum wollte meine Familie so weit entfernt von anderen Juden wohnen? Ein Rätsel, das mich bis heute beschäftigt.
Insgesamt hat Religion in meiner Kindheit aber keine große Rolle gespielt. Dass wir praktisch die einzigen Juden im Ort waren, schien mir nie ein Problem zu sein. Mein Vater war Apotheker und ein in Crosby und Umgebung sehr geachteter Mann. Schwerer wog, dass ich mich nicht für Popmusik interessierte.
Dabei stammte Bob Dylan aus dem etwa 100 Meilen entfernten Hibbing, wo er genau wie ich als jüdisches Kind in der christlich dominierten, skandinavisch und jugoslawisch geprägten Umwelt des Eisenerzabbaus aufwuchs. Aber in seinem Heimatort gab es im Gegensatz zu Crosby zumindest eine kleine jüdische Gemeinschaft und eine Synagoge.
musik Ich konnte mit Popmusik einfach nichts anfangen. Vielmehr trug ich mich eine Zeit lang mit dem Gedanken, Nonne zu werden. Aber das hatte wohl weniger mit dem Glauben zu tun als mit der kleidsamen schwarzen Tracht samt Haube, die es mir angetan hatte. Denn Spaß am Kostümieren, am Hineinschlüpfen in andere Rollen hatte ich schon immer.
Meine Liebe gehörte schon früh der Oper. Bereits mit sieben, acht Jahren saß ich gebannt am Radio und hörte mir vollkommen hingerissen Live-Übertragungen aus der New Yorker Metropolitan Opera an.
Außerdem las mir mein Vater oft aus mythologischen Erzählungen vor, wobei mir die nordische Mythologie am besten gefiel. Wenn die anderen beim Spielen Cowboys waren, war ich eine Walküre.
Dann hörte ich zufällig eine Aufnahme mit der norwegischen Sopranistin Kirsten Flagstad. Da war es um mich geschehen: »Das bin ich!«, dachte ich damals, und mein Entschluss stand unumstößlich fest: Ich werde alles tun, um eine Sängerin wie die Flagstad zu werden.
karriere Ich ging nach Bloomington, um zu studieren. An der Indiana University erwarb ich einen Bachelor of Music in Oper und einen Master of Music in Gesang. Bereits während meines Studiums wurde ich mehrfach für akademische Leistungen sowie als Sängerin ausgezeichnet.
Doch wer eine Opernkarriere aufbauen will, sollte am besten nach Deutschland gehen. Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) machte es möglich: Ich durfte für zwei Semester an der berühmten Folkwang-Hochschule in Essen studieren.
Deutsch kann ich ja schon, dachte ich. Schließlich hatte ich bereits in dieser Sprache gesungen. Aber dann kam das lustig-böse Erwachen: Mit Wagners Stabreimen konnte ich ja nicht einmal einen Kaffee bestellen! Dank eines Intensivkurses am Goethe-Institut, mit dem mein Studienjahr begann, kam ich allmählich mit der Sprache zurecht.
Mir gefiel es in Deutschland, ich bin schnell heimisch geworden und lebe auch heute noch gerne hier. Als ich 1971 ankam, begann das jüdische Leben hierzulande gerade wieder zu erwachen. Doch das hat mich damals nicht so sehr interessiert. Mit einem nichtjüdischen Ehemann und unserem Theaterleben war es leicht, Distanz zu wahren.
wagner Damals ging es mit meiner Karriere sofort bergauf: Direkt nach dem Studium in Essen erhielt ich mein erstes Opernengagement in Kaiserslautern. Darauf folgten Festengagements in Bern, Flensburg, Nürnberg, Hagen und Frankfurt. Nach meinem Wechsel ins hochdramatische Fach folgten zahlreiche Gastspiele im In- und Ausland.
An der Oper Frankfurt sang ich die Senta (Der Fliegende Holländer), Leonore (Fidelio) und die Brünnhilde in Wagners Ring des Nibelungen. Dann holte mich die Regisseurin Ruth Berghaus nach Dresden, wo ich unter anderem die Rollen der Elektra und Salome sang sowie die Senta in der Inszenierung von Wolfgang Wagner, dem Enkel des Komponisten.
1983 bekam ich für meine Interpretation der Brünnhilde in der Krefelder Ring-Inszenierung von John Dew den Förderpreis für Junge Künstler des Landes Nordrhein-Westfalen; 1989 wurde ich zum Ehrenmitglied des Richard-Wagner-Verbandes ernannt.
seele Wie wird aus einer Wagner-Sängerin eine Kantorin? Es fiel mir im Laufe der Jahre zunehmend schwer, meine jüdische Seele »in Schach« zu halten. Von der Bühne hatte ich mich inzwischen verabschiedet und mir als Gesangslehrerin mit eigenen Studios eine neue Existenz aufgebaut.
2001 fand ich zum Egalitären Minjan in Frankfurt. Dort lernte ich Daniel Kempin kennen und schätzen, Vorbeter und Chasan. Er gewährte mir den Freiraum, den ich für meine ersten Schritte auf meinem neuen Weg benötigte. Wir achten einander, lernen oftmals gemeinsam, kurz: Uns verbindet eine kollegiale Zusammenarbeit und tiefe Freundschaft.
Als Rabbinerin Elisa Klapheck im Jahr 2004 zu uns stieß, ließ sie mich Teile der Gottesdienste leiten und lehrte mich das Lejnen der Tora. Meiner Unwissenheit bewusst, arbeitete ich zielstrebig darauf hin, die richtigen Worte und Töne zu singen. Langsam reifte in mir die Erkenntnis, dass ich diese Musik nicht nur aufführen wollte: Auf der Bima wollte ich nicht »wie eine Opernsängerin« auftreten, sondern ehrlich und unprätentiös sein.
Ich merkte, dass ich noch viel zu lernen hatte und dass mich dieses Lernen mit großer Freude erfüllt. Rabbinerin Klapheck und Chasan Jalda Rebling ermutigten mich daraufhin, mich bei der Alliance for Jewish Renewal (Aleph) einzuschreiben. Nach einigen Jahren des Studiums wurde ich im Januar 2014 als Chasan ordiniert.
kette Doch das Lernen geht immer weiter, eine Antwort ergibt immer wieder neue Fragen. Das Judentum steht im Mittelpunkt, und ich weiß nicht, wohin meine Neugier mich noch führen wird.
Ich bin Lernende und Lehrende zugleich – ich betrachte mich als Glied in einer großen Kette, mit der Ehre und der Pflicht, das, was ich von so vielen Menschen mit auf den Weg bekam, weiterzugeben: ledor vador.
Musik gehört uns nicht. Wir haben nur die Ehre, sie aufzuführen und weiterzugeben, egal ob eine Opernrolle oder einen liturgischen Nussach: Es geht darum, Menschen mit Gesang zu berühren. Die Stimme dient der Musik, und die Musik dient dem Wort.
In der Synagoge möchte ich den Mitbetenden nicht »vorbeten« und »vortragen«, sondern mit ihnen gemeinsam »mitbeten« und »mitlernen«. Ich bin überzeugt, dass es gerade diese Teilhabe ist, die unsere wunderbare Liturgie, unser vielfältiges Wissen, unsere Traditionen lebendig machen.
schweden Daher freue ich mich auch, dass ich in diesem Jahr zum dritten Mal wieder nach Schweden eingeladen wurde, um in der kleinen jüdischen Gemeinde von Lund die Hohen Feiertage zu leiten. Ich gestalte dort alle Gottesdienste und Schiurim selbst, die ganze Liturgie sowie die Kawanot und Predigten.
Nur den Vortrag aus der Tora überlasse ich anderen – ich muss ja auch einmal Atem schöpfen.