Jeden Tag schrieb der junge Mann mir einen Brief. 3000 Kilometer lagen zwischen uns. Er lebte in Jekaterinburg, ich in Riga. Begegnet sind wir uns am Strand der lettischen Hauptstadt, wo er damals zu Besuch war. Er hatte noch einen Konkurrenten. Beide Jungs waren damals in mich verliebt und legten sich mächtig ins Zeug. Aber es war noch nichts Ernstes. Ich war gerade einmal 16 Jahre alt, ging noch zur Schule und liebte es, meine Nase in Bücher zu stecken und zu lesen.
Erst während der Studienzeit, als wir uns wiederbegegneten, entwickelte sich eine echte Romanze. Mit seinen Briefen gewann er mein Herz. Als ich 22 Jahre alt war, heirateten wir. Seine Briefe habe ich in Kartons aufgehoben, und als wir Anfang der 90er-Jahre illegal das Land verließen, verstaute ich sie bei Verwandten. Viel später kamen sie mit weiteren Sachen zu uns nach Osnabrück, und sie sind jüngst auch mit umgezogen, als wir Niedersachsen verließen, um nach Kehl in Baden zu ziehen. Wir verließen Osnabrück, um meiner Tochter zu helfen, denn sie hat sechs Kinder.
Ich engagiere mich gern. Derzeit bin ich bei der Synagoge in Kehl aktiv, die am 10. Dezember eröffnet werden soll. Bisher gab es in Kehl kaum Platz für Familien zum Beten. Erst haben David Byk, ebenfalls ein Mitinitiator, und ich zu uns nach Hause eingeladen, um Gottesdienste zu feiern. Doch mittlerweile sind wir mehr als 25 Beter und sechs Beterinnen, sodass es Zeit wurde, Räume zu mieten. Landesrabbiner Moshe Flomenmann wird kommen, ebenso der Oberbürgermeister.
Austausch mit anderen
Mir ist der Austausch mit anderen wichtig. Schon in Osnabrück war ich sehr aktiv. Nach ersten Jahren in der Buchhaltung einer Speditionsfirma – eine Stelle, die überhaupt nicht zu mir passte – war ich schließlich jahrzehntelang in vielen Dialog-Projekten tätig. Inzwischen schaue ich auf über Tausende von positiven Begegnungen mit Schülern, geflüchteten Frauen und Jugendlichen zurück. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Der direkte Austausch bringt unglaublich viel. Ich zeigte Schülerinnen und Schülern, was es heißt, jüdisch zu sein. Dafür brachte ich Torarollen in den Unterricht, erklärte die Bedeutung des Schabbats und sprach mit ihnen über das Gebet. Beten ist eine Hilfe in jeder Situation, denke ich.
Nach 2007 engagierte ich mich für das Projekt »Judentum begreifen«, das zunächst unter dem Dach der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit startete. 45 Partnerschulen in Osnabrück und im Landkreis sind in diesem Verbund. Wir waren in vielen deutschen Städten, um unsere Arbeit vorzustellen und andere anzuregen, es uns nachzumachen.
Es gab einen Wald, das Wasser, diese wunderbaren Buchten mit weichem Sand.
Ferner arbeitete ich als Beraterin für Kontingentflüchtlinge. Auch heute tragen zahlreiche junge Menschen viel Last auf ihren Schultern. Das zeigte mir auch die Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen, mit der ich zusätzlich begann. Bei diesen Begegnungen stand nicht der kulturelle Austausch im Mittelpunkt, sondern wir kochten auch zusammen und lauschten der Musik aus den jeweiligen Ländern, bastelten, tanzten oder besuchten Ausstellungen.
In der Ukraine wurde ich zwar geboren, aber als kleines Mädchen lebte ich fünf Jahre lang in Magdeburg. Mein Vater war Journalist beim Militär, und so wohnten wir in vielen Städten der Ex-UdSSR sowie im Ausland. In Magdeburg kam mein Bruder auf die Welt. Erst 1960 zogen wir dauerhaft nach Lettland, nach Riga. Ich las viel und lernte Klavier – was zum Programm vieler jüdischer Familien gehörte. Meine Mutter war Lehrerin, und sie konnte klassisch-jüdische Gerichte kochen. Mein Spielzeug aus dieser Zeit besitze ich noch, darunter eine riesengroße Puppe.
Sehr gern erinnere ich mich an die ausgiebigen Sommerferien – drei Monate lang. In der Nähe des Strandes besaßen wir eine kleine Datsche, in der wir als Kinder die Sommermonate verbrachten. Es gab einen Wald, das Wasser, diese wunderbaren langen Buchten mit weichem Sand. Das war wirklich eine märchenhafte Zeit. Ich wuchs in einer liebevollen Familie auf, sodass ich dachte, alle Menschen wären so. Als ich die Realität kennenlernte, war ich enttäuscht.
Unsere beiden Kinder kamen in Riga zur Welt, und wir verlebten, bis wir nach Deutschland zogen, genau wie früher, die Sommermonate am Strand. Es war eine glückliche Zeit. Nur der frühe Tod meiner Mutter trübte mein Leben. Sie starb mit 54 Jahren überraschend an Krebs. Ich war damals 22 Jahre alt, mein Bruder 16, und es war ein großer Verlust. Vor allem, als ich selbst Mutter wurde, vermisste ich es, jemanden zu haben, den ich um Rat fragen konnte.
1991 hatten mein Mann und ich den Entschluss gefasst, nach Deutschland zu gehen. Ich war 38 Jahre alt, unsere Kinder elf und 13 Jahre. Meinen Vater konnten wir einen Monat später nachholen. Die ersten acht Monate wohnten wir in einem provisorischen Wohnheim in der Nähe von Osnabrück, das die Gemeinde angemietet hatte. Mit anderen 51 jüdischen Einwanderern auf viel zu engem Raum.
Zu viert im Dachgeschoss
Das war eine große Herausforderung für uns alle. Wir wohnten zu viert in einem Dachgeschoss. Es war wirklich keine leichte Zeit. Wir fingen sofort an, Deutschunterricht zu nehmen, fanden aber keinen Platz, um in Ruhe zu lernen. Es war sehr schwierig, eine Wohnung nur für uns vier zu finden. Für unsere Kinder war es auch nicht leicht, sie sprachen kein Wort Deutsch und sollten auf die Hauptschule. Aber dort fühlte sich meine Tochter nicht wohl, sie wurde gemobbt, sodass ich sie wieder abmeldete.
Sie büffelte dann mehrere Wochen und schaffte die Prüfung fürs Gymnasium. Schließlich konnten wir in die Innenstadt von Osnabrück ziehen und hatten endlich eine eigene Wohnung. Lustigerweise lautete die Adresse »Goldstraße«. Wir Goldmanns wohnten in der Goldstraße, ein winziges Gässchen, mit Gold hatte das alles nicht viel zu tun – aber das passte natürlich. Auch unseren türkischen Nachbarn fiel die Übereinstimmung auf, sie freuten sich darüber, wir schlossen schnell mit ihnen Freundschaft. Als sie hörten, mit wie wenig Geld wir auskommen mussten, waren sie bestürzt.
Die warmherzigen Willkommens-Grüße beeindruckten mich.
Eines Tages kamen wir nach Hause, und vor der Tür standen mehrere Tüten mit Lebensmitteln. Diese warmherzigen Willkommens-Grüße beeindruckten mich. Es war für mich auch eine Inspiration, mich später für die Flüchtlinge einzusetzen, die ab 2015 nach Deutschland kamen. Ich wollte die Hilfe zurückgeben, die uns zuteilgeworden war.
Wir sind religiös. Doch als wir nach Deutschland kamen, hatten wir keine Ahnung, wie wir unser Judentum leben konnten. In Lettland war Religionsausübung kaum möglich. In Osnabrück wurden wir durch die jüdische Gemeinde in die Religion eingeführt. Unser Rabbiner Marc Stern sel. A. war sehr nahbar, nie von oben herab, und wir lernten durch ihn sehr viel. Inzwischen genießen wir den Schabbat sehr, es ist für uns eine schöne Möglichkeit, die Woche Revue passieren zu lassen und zur Ruhe zu kommen. Mein Sohn ist sogar Rabbiner in Israel geworden. Er ist verheiratet und hat inzwischen wie meine Tochter sechs Kinder und fühlt sich dort zu Hause.
Obwohl ich mich lieber der Literatur gewidmet hätte, studierte ich nach der Schule Maschinenbau. Ich wusste, dass mit Literatur kein Geld zu verdienen war. Nach dem Studium bekam ich meinen ersten Job als Programmier-Ingenieurin und später als Abteilungsleiterin bei einer Firma in Riga. In diesem Bereich konnte ich Ausstellungen mit Bildern von russischen Künstlern kuratieren. Es ist eine traurige Geschichte, dass unsere Diplome – auch mein Mann ist Ingenieur – in Deutschland nicht anerkannt wurden.
Lesekreis und Zumba
Heute bin ich in einem Lesekreis aktiv. Gegenseitig lesen wir uns Bücher vor und besprechen sie. Am liebsten vertiefe ich mich in Romane. Übrigens lese ich nur deutsche Bücher. Einmal in der Woche gehe ich zum Tanzen und habe Spaß an den israelischen Tänzen. Auch Zumba mache ich gern, um mich fit zu halten. Ich bin eher ein Stadtmensch, aber mittlerweile weiß ich auch die Natur zu schätzen. Beten ist für mich wie eine intensive Meditation. Alle Sorgen, alles, was mich bewegt, kann ich Gott vortragen. Besonders beim Entzünden der Kerzen zum Schabbat tue ich das. Man sagt im Judentum: Die Ohren Gottes sind für die Frau geöffnet, wenn sie die Kerzen anzündet. Da kann ich ihn alles fragen und ihm alles sagen, was ich mir wünsche.
Ein paar Tage nach der Eröffnung der Kehler Synagoge werde ich zusammen mit meinem Mann nach Israel reisen – zur Hochzeit eines Enkels. Zum Glück leben sie in einer friedlichen Gegend. Ich freue mich sehr auf die Begegnungen und die Feier.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt