Schlussspurt auf dem diesjährigen Jugendkongress: Nach einer lebhaften zweistündigen Vollversammlung der Jüdischen Studierendenunion (JSUD) am Sonntagvormittag ging es am Mittag direkt weiter mit der letzten Diskussionsrunde. »Meine Zukunft – Meine Gemeinde«, so lautete der harmlos klingende Arbeitstitel.
Doch das Thema hat es in sich. »Schließlich geht es um etwas, über das allzu oft nicht allzu gerne gesprochen wird«, wie es Philipp Peyman Engel auf den Punkt brachte. »Denn seit Jahren werden die Gemeinden kleiner, die Mitgliederzahlen gehen zurück«, so der Chefredakteur der »Jüdischen Allgemeinen«, der die Moderation des Panels übernommen hatte. »Ist das ein Prozess, der ein Naturgesetz ist?«, wollte er wissen. »Und wenn nicht, was kann man dagegen unternehmen?«
Dass der Zustand ernst sei, das konnte auch Aron Schuster bestätigen. »Eigentlich ist es schon nicht mehr fünf vor zwölf, sondern bereits fünf nach zwölf«, betonte der Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und verwies auf die Tatsache, dass viele Gemeinden mit einer massiven Überalterung zu kämpfen haben.
Besondere Bedeutung
Genau deshalb komme dem Engagement Jüngerer eine so besondere Bedeutung zu. Nur so ließe sich die Zukunftsfähigkeit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nachhaltig sichern. Doch wie man das richtig anstellt, darüber gibt es recht unterschiedliche Auffassungen.
Doch etwas Positives konnte Schuster trotzdem nennen, und zwar den Zuwachs, den man durch den Zuzug von jüdischen Geflüchteten aus der Ukraine und Russland in den Jahren 2022 und 2023 verzeichnen konnte. »Das sollten wir durchaus als Chance begreifen und lässt uns ein wenig hoffnungsvoller in die Zukunft blicken.«
Zudem legte Schuster Wert darauf, dass man die Situation differenzierter betrachten sollte. »Einige Gemeinden arbeiten ganz vorbildlich und wachsen. Andere dagegen haben Nachholbedarf.« Dabei sei es nicht unbedingt eine Frage der Größe, auch kleinere Gemeinden würden es durchaus verstehen, Mitglieder aller Altersgruppen erfolgreich an sich zu binden. Davon könnten andere nur lernen.
Zielgruppengerechte Angebote
Doch wer der jüngeren Generation angehört und Verantwortung übernehmen will, stößt oftmals auf Widerstände. Davon konnte Shelly Meyer, die vor einigen Jahren im Alter von Mitte 20 in Hamburg Deutschlands jüngstes Gemeindevorstandsmitglied wurde, aus ihren Erfahrungen berichten.
»Dann heißt es seitens der Älteren gerne ›das sehen wir anders’ oder ›brauchen wir nicht‹.« Mit Jüngeren auf Augenhöhe zu reden, um zielgruppengerechte Angebote entwickeln zu können, falle einigen Älterem wohl recht schwer.
Dabei kommt Meyer aus einer Metropole, in der es sogar eine jüdische Schule gibt. Aber selbst wer dort sozialisiert wurde, ist nicht selten Teil von jüdischen Parallelstrukturen, die nichts mit der Gemeinde zu tun haben. Ähnliches lässt sich über die israelischen Communities sagen, die unter anderem in Städten wie Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt entstanden sind, und denen eine jüdische Gemeinde einfach fremd sei. Meyers Forderung lautete daher: »Wir sollten uns mal genau überlegen, wie wir diese Personen besser erreichen können.«
Schritt nach vorn
Engel griff diese Situationsbeschreibungen auf und sprach deshalb von einer »Leerstelle für junge Erwachsene«, die es offensichtlich gibt. Zugleich brachte er das Stichwort von der Quote in die Diskussion – einer Art Selbstverpflichtung, dass beispielsweise 25 Prozent der Mitglieder eines Gemeindevorstands jünger als 40 Jahre sein sollten. »Wäre das ein Schritt nach vorn?«
Dieser Vorschlag stieß bei Sima Purits, Geschäftsführerin der JSUD, nur bedingt auf Zustimmung – obwohl auch sie Erfahrungen mit einer Abwehrhaltung gegenüber Jüngeren machen musste. »Ich bin bereits stark an Grenzen gestoßen, wenn es um Fragen wie den Zugang zu Räumlichkeiten oder finanzielle Mittel ging.«
Sie plädierte daher für mehr Aufklärung und Bewusstsein schaffen. »Es muss deutlicher gemacht werden, dass auch die Jüngeren ein Teil der jüdischen Gemeinschaft sind.« Nur so ließe sich ihrer Meinung nach diese manchmal hartnäckige Abneigung gegen Veränderungen korrigieren.
Überalterung und Mitgliederschwund
Eine Quote hält ebenfalls Daniel Botmann für suboptimal. »Das erweckt den Eindruck, als ob junge Leute nicht in der Lage wären, sich ihren Platz selbst zu erkämpfen«, so der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sehr wohl aber wisse man bereits seit Jahren um die Problematik der Überalterung und des Mitgliederschwunds und will ihren Ursachen weiter auf den Grund gehen.
Ein Mittel dazu sei das 2019 gestartete Gemeindebarometer, der bisher größten Umfrage innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. »Das zweite Gemeindebarometer läuft gerade an«, weiß Botmann zu berichten. »Schließlich hat es seither – angefangen von Corona über den Ukrainekrieg bis hin zum 7. Oktober – zahlreiche Ereignisse gegeben, die massiven Einfluss auf die jüdische Gemeinschaft hatten.
»Wir brauchen eine Willkommensstruktur, die in alle Bereiche hinwirkt«, so Botmann weiter. Oder anders formuliert, eine Art Neujustierung dessen, was bereits vorhanden ist. »Ich bin davon überzeugt, dass die Strukturen, die sich die jüdische Gemeinschaft seit den späten 1940er Jahren gegeben hat, keine sind, die über Bord geworfen werden sollten.«
Eindrucksvolle Erfolgsgeschichten
Diese hätten sich bestens bewährt, auch in Ausnahmesituationen. »Aber wir müssen Dinge attraktiver manchen und die Jüngeren dazu auffordern: Claim Your Spaces - auch wenn das einigen älteren Vorstandsmitglieder in den Gemeinden nicht gefällt.« Und Organisationen wie die 2016 ins Leben gerufene JSUD sind eindrucksvolle Erfolgsgeschichten, die zeigen, wie es klappen kann.
Den Blick über den Tellerrand – oder genauer gesagt über den Großen Teich – lieferte dann noch Joelle Abaew, Vizepräsidenten der internationalen jüdischen Jugendorganisation BBYO. »Auch wenn man die Situation der jüdischen Gemeinden in den USA mit der in Deutschland nur schwerlich vergleichen kann, so lässt sich doch sagen, dass die Stimmen der Jüngeren dort eher genauso viel Gewicht haben wie die der Älteren.«
Sehr wohl aber habe man hierzulande aufgrund der hervorragenden Vernetzung der Gemeinden Strukturen, die anderswo nicht vorzufinden sind. Aber ein Defizit musste Abaew trotzdem zur Sprache bringen: Ihrer Meinung nach werde hierzulande zu viel über die Jugendlichen gesprochen - und viel zu wenig mit ihnen.