Sie haben bereits eine Ausbildung absolviert, kommen aus verschiedenen Ländern – und wissen schon jetzt, in welcher Gemeinde sie nach ihrer Ordination zur Rabbinerin und zum Rabbiner amtieren werden. Ann Gaëlle Attias wird nach Toulouse gehen, Irene Muzas Calpe nach Barcelona und Andrés Bruckner nach Bochum. Am 23. Oktober werden die Absolventen des Zacharias Frankel College, der Potsdamer Ausbildungsstätte der Masorti-Bewegung, ordiniert. Damit beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt.
Für Ann Gaëlle Attias schließt sich der geografische Kreis, denn sie wuchs in Frankreich in der Nähe von Paris auf. Ursprünglich kommt ihre Familie aus Marokko, lebte eher ein traditionell-sefardisches Judentum. Die 48-Jährige interessierte sich schon als Schülerin für den Religionsunterricht, war jedoch sehr frustriert über den Platz, der ihr als Mädchen zugewiesen wurde, denn sie konnte nicht aktiv am Gottesdienst teilnehmen, Mischna und Gemara studieren, wie sie sagt. Das änderte sich, als sie die erste Rabbinerin Frankreichs, Pauline Bebe, und damit das egalitäre Judentum kennenlernte. So habe sie ihren Platz in der Synagoge gefunden.
Als Schülerin interessierte sich Ann Gaëlle Attias für den Religionsunterricht.
Mit 20 Jahren begann sie, als Journalistin zu arbeiten. 1996 wurde sie Fernsehreporterin und verfolgte zehn Jahre lang Kriminalfälle, was für sie emotional eine anstrengende Zeit darstellte. Ann Gaëlle beschloss schließlich, sich dem politischen Journalismus zuzuwenden, und wurde Reporterin für Politik, wobei sie sich auf rechtsextreme Parteien spezialisierte.
abendkurse Nach mehr als 20 Jahren in der Medienwelt wollte sie etwas Neues machen und begann, in Abendkursen Religionswissenschaften an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) zu studieren. Ihre Abschlussarbeit, die halachische und soziologische Forschungen miteinander verbindet, hatte »Die Aneignung von Tallit, Tefillin und Kippa durch liberale Frauen in Frankreich« zum Thema.
2016 verließ Attias das Fernsehen endgültig, um in Paris unter der Leitung von Rabbinerin Pauline Bebe und Rabbiner Tom Cohen und anschließend in London am Leo Baeck College ein Rabbinatsstudium aufzunehmen. 2020 entschied sie sich, zum Zacharias Frankel College zu wechseln. Ihre Abschlussarbeit bietet eine Analyse von Konversionen, die in Frankreich und Marokko in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden.
Seit 2018 ist Ann Gaëlle Attias Rabbinatspraktikantin bei der Association des Juifs Libéraux de Toulouse unter der Aufsicht von Rabbiner Stephen Berkowitz. Am 1. November wird sie offiziell Rabbinerin dieser Gemeinde werden.
Talmud Seit Andrés Bruckner 16 Jahre alt ist, wusste er, was er werden möchte: Rabbiner. Der Auslöser für diesen Wunsch war seine Begegnung mit der Wilnaer Ausgabe des Talmuds: Das Werk hat 63 Traktate mit 2711 doppelseitigen Folianten. Das sind mehr als 1,8 Millionen Wörter. Er sei erstaunt gewesen, denn er wusste nicht, dass Juden schon in der Antike ihr eigenes »Google« hatten, sagt der Kolumbianer.
Seit Andrés Bruckner 16 Jahre alt ist, wusste er, was er werden möchte: Rabbiner.
Andrés Bruckner war von der Wilnaer Ausgabe des Talmuds fasziniert.
Bei »so viel Wissen, von spirituellem bis hin zu reinem und einfachem gesunden Menschenverstand« wurde für Andrés klar, dass so viel Arbeit nicht nur das Ergebnis eines historischen Prozesses oder einfach der Wille sehr hartnäckiger Menschen sein konnte. Daher sei in ihm die Idee gereift, Rabbiner zu werden, »um die Juden daran zu erinnern, dass sie die Hüter einer unglaublichen und wunderschönen Tradition sind«.
In Kolumbien war es kaum möglich, Rabbiner zu werden. Da er zu diesem Zeitpunkt seine Heimat nicht verlassen wollte, entschied er sich, erst einmal einen Master in Finanzwesen zu machen. Danach arbeitete er als Händler an der Börse. Währenddessen engagierte Andrés sich in der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde von Bogotá, wo er Gottesdienste leitete und Madrich war.
Als er dann hörte, dass in Deutschland das Zacharias Frankel College gegründet worden war, wusste er, dass es nun der richtige Zeitpunkt war, nach Europa zu gehen. Da ein Teil von Andrés’ Familie aus Österreich und dem Elsass stammt, wollte Andrés auch schon immer Deutsch lernen, die Sprache seiner Großeltern. Deshalb reichte Andrés 2016 seine Bewerbung ein und ging nach Israel, um auch sein Hebräisch für das kommende Studium zu verbessern.
Nun, sechs Jahre später, schließt Andrés seine rabbinische Ausbildung mit seiner Abschlussarbeit über die Entwicklung des Verbots »Nach ihren (spezifischen) Satzungen sollt ihr nicht gehen« ab. Seit Purim 2021 ist der 32-jährige Rabbinerpraktikant bei der Jüdischen Gemeinde in Bochum. Er soll die Stelle des Rabbiners dieser Gemeinde antreten.
Wurzeln »Für das Judentum habe ich mich schon seit meiner Jugend interessiert, ohne genau zu wissen, woher dieses Interesse kam«, sagt Irene Muzas Calpe, die aus Barcelona stammt. Mit Ende 20 entdeckte sie, dass ihre demenzkranke Oma jüdische Wurzeln hatte. Sie tauchte tiefer in die Familiengeschichte ein, lernte Hebräisch, besuchte eine Synagoge, konvertierte und kam schließlich Jahrzehnte später zum Studium nach Berlin.
»Für das Judentum habe ich mich schon seit meiner Jugend interessiert, ohne genau zu wissen, woher dieses Interesse kam.«
Irene Muzas Calpe
In Spanien studierte sie Englische Philologie und Literatur und belegte einen Kurs übers Judentum. Als Lehrerin für Englisch und Latein unterrichtete sie mehrere Jahre. Später arbeitete sie im Verlagswesen als internationale Rechtemanagerin, Lektorin und Verlegerin.
Gleichzeitig engagierte sie sich in der jüdischen Gemeinde. »Ich begann, mich zu fragen, wie es wohl wäre, Rabbinerin zu sein. Unterrichten und Lehren sehe ich als Grundlage dessen, was ich tue. Es ist das Kernstück meiner Arbeit.« Letztendlich lehre ein Rabbiner ja die Tora und gibt so das jüdische Erbe weiter. »Das war es, was ich eigentlich tun wollte.«
jeschiwa In Barcelona gab es keine Rabbinerausbildung. Also gingen Irene und ihr Mann nach Berlin. Im Rahmen ihres Rabbinerstudiums absolvierte sie einen Bachelor und Master in Jüdischer Theologie an der Universität Potsdam und verbrachte ein Jahr an der Konservativen Jeschiwa in Jerusalem.
Muzas Calpe interessiert sich für Midraschim, für Superhelden-Comics und geschlechtsspezifische jüdische Studien, über die sie promovieren möchte. Als Rabbinerin möchte sie zum (Wieder-)Aufbau der jüdischen Gemeinde in Spanien und Europa beitragen und mit dem Judentum Brücken zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten bauen, sagt Irene. Übrigens: Die 48-Jährige wird die erste Rabbinerin in Spanien und freut sich, die Massorti-Gemeinde in Barcelona, ATID, zu leiten.