Porträt der Woche

Blick in die Seele

Alisa Goldman ist Verhaltenstherapeutin und arbeitet im Jüdischen Krankenhaus in Berlin

von Gerhard Haase-Hindenberg  04.06.2023 00:44 Uhr

»Warum sind unter den Psychologen überdurchschnittlich viele Juden vertreten?«: Alisa Goldman (57) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Alisa Goldman ist Verhaltenstherapeutin und arbeitet im Jüdischen Krankenhaus in Berlin

von Gerhard Haase-Hindenberg  04.06.2023 00:44 Uhr

Meine Familiengeschichte ist eine der üblichen jüdischen Familiengeschichten im 20. Jahrhundert. So ist meine Mutter in Montevideo geboren, wohin deren Mutter, also meine Großmutter, aus Białystok stammend, im Sommer 1939 ausgewandert war. Sie hatte Polen mit dem letzten Schiff vor Beginn des Krieges verlassen.

In Uruguay ist meine Großmutter von Bord gegangen, wo bereits der Bruder ihres Mannes lebte. Dort wuchs später meine Mutter auf, hat geheiratet und brachte meine ältere Schwester zur Welt. Allerdings hat sie sich schon bald wieder scheiden lassen. Für eine geschiedene Frau aber, so erzählte sie manchmal, war das Leben in der jüdischen Gesellschaft Südamerikas sehr schwer. Deshalb ist sie nach Israel emigriert und wohnte bei der Schwester meiner Oma.

familie Mein Vater stammt ursprünglich auch aus Polen, aus Lublin, und ist nach dem Krieg nach Deutschland gekommen. In den 60er-Jahren machte er Urlaub in Israel und lernte meine Mutter kennen. Die beiden heirateten, und sie zog mit ihm nach Berlin, wo er ein kleines Juweliergeschäft betrieb.

Hier sind dann meine Zwillingsschwester Rita und ich zur Welt gekommen. Wir besuchten den Jüdischen Kindergarten, fuhren während der Schulferien zu den Machanot, und mit zwölf Jahren feierten wir in der Synagoge Pestalozzistraße gemeinsam die Batmizwa.

Unsere Familie feierte die Hohen Feiertage, auch den Schabbat. Wir waren eine traditionelle jüdische Familie – und das hat mich geprägt. Leider verstarb unsere Mutter sehr früh und anderthalb Jahre danach auch unser Vater.

Im Alter von 20 Jahren waren Rita und ich Vollwaisen. Es war eine schwere Zeit, wobei Reina, unsere acht Jahre ältere Schwester, immer für uns da war. Bis dahin waren meine Zwillingsschwester und ich sehr individuelle Wege gegangen, hatten nach der Grundschulzeit einen komplett unterschiedlichen Freundeskreis und ganz verschiedene Interessen.

Die oft behauptete symbiotische Beziehung unter eineiigen Zwillingen fand bei uns nicht statt. Wir hatten eher ein ganz normales geschwisterliches Verhältnis wie andere Schwestern auch. Rita lebt heute mit ihrer Familie in Israel, und gerade erst bin ich von einem Besuch bei ihnen zurückgekommen.

BANKLEHRE Nach meinem Abitur wusste ich nicht recht, was ich machen sollte. Psychologie hatte mich auch damals schon interessiert, aber noch hatte ich mir nicht zugetraut, das zu studieren. Mein damaliger Freund hatte eine Banklehre gemacht, und da habe ich mir überlegt: Die Lehre dauert zweieinhalb Jahre, man bekommt sogar etwas Geld dafür und ist später gut angesehen.

Weil ich unter Heuschnupfen leide, konnte ich nicht Stewardess werden.

Die Ausbildung fand ich eigentlich schrecklich, aber trotzdem war ich froh, sie absolviert zu haben. Ich habe gelernt, mit Geld umzugehen, habe wirtschaftliche Zusammenhänge erkannt und ein ganz anderes Verständnis für die Welt bekommen. Aber danach wollte ich nie wieder in einer Bank arbeiten.

Damals war meine große Schwester Stewardess bei der PAN AM. Dafür habe ich mich auch beworben und hatte schließlich schon den Vertrag im Briefkasten. Es war nur noch ein Gesundheitsfragebogen auszufüllen. Da habe ich unter dem Punkt Allergien wahrheitsgemäß angekreuzt, dass ich unter Heuschnupfen leide.

studium Das war’s dann, ich habe den Job nicht bekommen. Also landete ich wieder bei einer Bank und war wieder todunglücklich. Nach einem Jahr habe ich beschlossen, endlich etwas zu machen, was mir Spaß macht, und begann zu studieren. Ich habe mich für Judaistik an der Freien Universität eingeschrieben, mit Psychologie und Politologie in den Nebenfächern. Nach dem ersten Semester wusste ich, dass die Psychologie mein Interesse am meisten geweckt hatte.

Also bemühte ich mich um einen Platz im Diplomstudiengang, was nach einer Weile auch geklappt hat. Dort habe ich tolle Leute kennengelernt, bin mit Herzklopfen in die Uni gegangen, habe meine Scheine gemacht. Schon in den ersten Semestern habe ich einen Kurs in »Klinischer Psychologie« belegt, obgleich das ja eigentlich erst im Hauptstudium an der Reihe war.

Nebenbei habe ich am Flughafen bei der Security der israelischen Fluggesellschaft EL AL gearbeitet und habe damit fast so viel verdient wie vorher bei der Bank. Die finanzielle Seite war also geregelt, und so konnte ich das Studium unter dem Aspekt des Spaßes angehen. Es hat mir einfach Freude gemacht.

FREUDE Nachdem ich das Grundstudium abgeschlossen hatte, wollte ich unbedingt ein Praktikum in der Psychiatrie machen, um festzustellen, ob das, was theoretisch Freude machte, mir auch praktisch liegt. Es ging mir darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob ich mit einer Arbeit in der Psychiatrie zurechtkommen würde.

Ich hatte das Glück, einen Praktikumsplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Virchow-Klinikum zu bekommen. Das war eine tolle Arbeit, bei der ich sehr eng mit den Ärzten zusammengearbeitet und deshalb unheimlich viel gelernt habe.

Bald war ich bei verschiedenen Forschungsprojekten dabei. Da ging es etwa um HKS, das hyperkinetische Syndrom, was heute ADHS genannt wird. Man beschäftigte sich in diesem Forschungsprojekt mit dem Medikament Ritalin. Das ist ein Amphetamin, was ja bekanntlich abhängig machen kann. Die Frage also war, ob die Jugendlichen, denen man das verabreicht, danach leichter Abhängigkeitserkrankungen entwickeln.

DIPLOMARBEIT Meine Diplomarbeit an der Freien Universität schrieb ich über »Jüdische Identität bei Kindern aus gemischt-religiösen Ehen«. Dafür habe ich Interviews mit fünf verschiedenen Paaren geführt. Nachdem ich nun das Psychologiestudium abgeschlossen hatte, überlegte ich, nach Israel zu gehen, wo meine Zwillingsschwester bereits lebte. Schließlich machte ich ganz offiziell Alija, um dort die Psychotherapeuten-Ausbildung zu absolvieren. Nachdem ich den Sprachkurs im Ulpan besucht hatte, kam ich über den Kontakt, den mir eine Bekannte verschafft hatte, als wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Schneider-Kinderhospital in Petach Tikwa.

Der Professor dort bot mir an, die Psychotherapeuten-Ausbildung an seinem Haus zu machen. Vorausgesetzt natürlich, meine bisherige Ausbildung würde in Israel anerkannt, was leider gar nicht so einfach war. Letztendlich hat es anderthalb Jahre gedauert. Nun aber stand der Ausbildungsplatz nicht mehr zur Verfügung.

So entschloss ich mich, nach zwei Jahren in Israel, wieder nach Berlin zurückzugehen. Hier konnte ich sofort an der Berliner Akademie für Psychotherapie meine Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin beginnen. Nebenbei habe ich etwas Geld verdient, indem ich an verschiedenen klinischen Instituten gearbeitet habe.

praxis Heute arbeite ich mit einer halben Stelle als Psychologin im Jüdischen Krankenhaus und zur anderen Hälfte in meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis, die ich seit 2007 im Berliner Grunewald betreibe.

In meiner Praxis bin ich sehr häufig mit Trennungsproblematiken konfrontiert und auch mit Liebeskummer, was ja leider keine eigene Diagnose ist. Oft kommen auch Patienten mit einem sogenannten Burn-out, was aber laut fachlicher Klassifikation auch keine psychiatrische Diagnose ist. Erfahrungsgemäß steckt dahinter fast immer eine Depression.

Im Jüdischen Krankenhaus sind Abhängigkeitserkrankungen immer wieder ein großes Thema. Wobei ich die Abhängigen nur therapieren darf, wenn sie abstinent sind. Wenn sie es nicht von allein schaffen, von der Abhängigkeit wegzukommen, kann man sie begleiten, eine Entgiftung zu machen. Da wird im Jüdischen Krankenhaus schon seit Langem eine sehr gute Arbeit geleistet.

Manchmal habe ich mich gefragt, warum traditionell unter den Psychologen überdurchschnittlich viele Juden vertreten sind, wie Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld, Viktor Frankl oder Erich Fromm. Ich denke, ein Grund liegt in der Intellektualität vieler jüdischer Menschen, die wiederum ihren Ursprung in dem Gebot des Lernens in der jüdischen Religion hat. Wenn man die rabbinischen Diskussionen im Talmud betrachtet, so ist hier bereits eine Diskurskultur angelegt, die dem Denken in der Psychologie sehr verwandt ist.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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