Wie sieht eine jüdische Zukunft in diesem Land aus? Können wir noch von einem sicheren, selbstbewussten Leben träumen, oder bleiben wir realistisch? Gemäß Theodor Herzl ist das die falsche Frage: »Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.« Die deutsche Antwort darauf stammt von Helmut Schmidt: »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.«
Praktisch also, dass zu diesem Thema ein Arzt mit auf dem Podium sitzt, den Moderatorin Sabena Donath gleich um eine Diagnose bitten kann, wie es um die jüdische Zukunft in Deutschland steht. Zentralratspräsident Josef Schuster macht zunächst eine Anamnese: »Die Hamas hat es in den vergangenen zwei Monaten geschafft, unseren Blick in die Zukunft zu verdüstern. Es gibt ein Unsicherheitsgefühl in diesem Land«, sagt er. »Aber: Ziehen Jüdinnen und Juden deswegen aus Deutschland weg? Sehen sie keine Zukunft mehr?« Das nehme er nicht wahr.
Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), widerspricht. Gerade junge Juden hätten bereits einige Schläge in kurzer Zeit erfahren: das Attentat von Halle, den Ukraine-Krieg, den Antisemitismus an den Unis nach dem 7. Oktober. All das sorge dafür, dass jüdische Studierende anfangen, Hebräischkurse zu nehmen und ihre Karrieren darauf auszurichten, dass sich auch in Israel ein Leben aufbauen lässt. Sie zögen nicht gleich um. Aber man werde müde. »Wir fragen uns, wann wir nicht mehr jedes Mal selbst den Antisemitismus ansprechen müssen, sondern die Mehrheitsgesellschaft Verantwortung übernimmt.« Dafür gibt es Applaus.
Viele spüren sie, diese Müdigkeit.
Viele spüren sie, diese Müdigkeit. Und die Frage, ob man überhaupt, an einer jüdischen Zukunft bauen könne, während man in der Endlosschleife steckt, Antisemitismus abzubauen. Ein Zuschauer stellt die entscheidende Frage: »Wie viel von Ihrem Budget geben Sie für die Antisemitismusbekämpfung aus und wie viel für jüdische Schulen oder koschere Restaurants?« Denn gerade, so seine Diagnose, verließen Gemeindemitglieder Deutschland nicht so sehr deshalb, weil sie sich bedroht fühlten, sondern weil sie hier nicht die religiöse Infrastruktur vorfänden, die Wien, Israel oder die USA bieten.
Auch Rabbiner Zsolt Balla beobachtet das: Zwar ziehe das Gemeindezentrum in Leipzig viele junge Leute an. Doch sobald diese religiöser würden, zögen sie nach Berlin oder weiter weg. Wie kann man sie halten? Rabbiner Balla warnt, nur in Zahlen zu denken und sich vor allem auf die Gegenwart zu konzentrieren: »Wer ist gerade zu mir zum Schabbat gekommen? Wie geht es denen, die jetzt in die Synagoge kommen?«
Auch Rebecca Seidler, Geschäftsführerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, betont, wie wichtig es sei, auf die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder einzugehen – und zwar über die Grenzen der religiösen Ausrichtung hinaus: »Ukraine, Israel, Antisemitismus: Das trifft uns alle.« Die Mitglieder seien teilweise (re)traumatisiert: »Unsere Jugendlichen, die jedes Video der Hamas auf ihren Handys gesehen haben, genauso wie die Schoa-Überlebenden, die an dunkle Zeiten erinnert werden.«
Jetzt brauche es Räume, um sich gegenseitig zu trösten, einander zuzuhören und aufzufangen. Hanna Veiler betonte zum Schluss, dass diese innerjüdischen Räume, die durch den Schock des 7. Oktober derzeit von Zusammenhalt und Einheit geprägt seien, irgendwann auch wieder zu Räumen der Diskussion werden würden. Räume, in denen die jüdische Zukunft in Deutschland ausgehandelt werde – zwischen den Generationen, den Strömungen, den Geschlechtern.
Und dass diese Diskussionen wieder beginnen werden, sei ein Zeichen der Hoffnung, eines lebendigen, sich entwickelnden Judentums, das sich auch traue, Konflikte anzusprechen. Aber, das ist Hanna Veiler wichtig: »Ich glaube und hoffe, wir werden nach dem 7. Oktober in einem anderen Ton miteinander streiten können.«