Wir sehen uns morgen», sagt Konrad und verlässt den Aufenthaltsraum des Blindenhotels. Ups, war nicht ganz passend, er probiert es noch einmal mit: «Wir treffen uns beim Frühstück», sorry, wieder daneben. Wie geht man korrekt mit sehbehinderten Menschen um? Die Runde in der Gaststube lacht und grüßt: «Bis morgen».
In Kevelaer wollten sechs jüdische Jugendliche wissen, wie es ist, die Welt aus einer anderen Perspektive zu erleben. Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein hatte sie eingeladen, um sie mit den Problemen vertraut zu machen, vor die körperlich eingeschränkte oder blinde Menschen gestellt sind, und vermitteln, wie man ihnen helfen kann.
Normalität Eine Alltagssituation hatte den Jugendreferenten des Landesverbandes, Gabriel Goldberg, auf die Idee für das Seminar gebracht. «Ich stand vor der Düsseldorfer Synagoge fragte einen spastisch gelähmten jungen Mann im Rollstuhl nach seinem Namen», erzählt Goldberg. Diese Frage habe bei dem jungen Mann so viel Freude ausgelöst, dass die Eltern ihn beruhigen mussten. «Dabei war das doch eine ganz normale Frage, dachte ich.» Doch normal – also alltäglich – sei wohl eher, dass die meisten Menschen die Eltern nach dem Namen des Sohnes fragen. «Bei unserem Seminar geht es darum, dass wir Menschen wie Menschen behandeln wollen.»
Drei Mädchen und drei Jungen aus verschiedenen Gemeinden des Landesverbandes sind zu dem Seminar in Kevelaer gekommen, das die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und die Stiftung Deutsche Jugendmarke unterstützten. Eine Übung beschreibt Marko Predmestnykov aus Viersen. «Wir haben uns zum Beispiel gegenübergestellt und beschrieben, welchen Eindruck wir rein äußerlich voneinander haben. Aber bei diesem ersten Blick irrt man sich oft», sagt der 16-Jährige, «deshalb sollte man sich nicht davon leiten lassen.»
locker «Und wir haben auch über Mitleid gesprochen», sagt Iryna Hutman aus Wuppertal. Dieses Mitleid entstehe bei der Begegnung mit behinderten Menschen, ohne dass man überhaupt wisse, ob sie wirklich leiden. «Deshalb ist Mitleid auch falsch, man sollte sich besser einfühlen und beispielsweise erst einmal fragen, ob die Menschen überhaupt unsere Hilfe brauchen, bevor man etwas macht.»
Das kann Tatjana Weber den Jugendlichen auch nur raten – in ihrem eigenen Interesse. Die 28-Jährige, die den Seminarteilnehmern aus ihrem Alltag erzählt, hat von Geburt an eine Spastik, sie kam zwei Monate zu früh auf die Welt. «In meinem Gehirn ist nicht alles eingeschaltet worden», erklärt sie in einfachen Worten. Deshalb benötige sie zur Sicherheit Gehstützen.
«Und mit der Hilfe ist es da ganz schwierig. Wenn ich zum Beispiel eine Tür öffnen muss, dann stütze ich mich mit einer Hand auf den Stock. Aber wenn ich dabei jemanden übersehe, der mir helfen will und die Tür aufzieht, schleudert er mich volle Kanne durch den Raum.»
Der lockere, selbstverständliche und selbstironische Ton, in dem Tatjana Weber erzählt, färbt auf die Jugendlichen ab. Sie hören aufmerksam und ohne jegliche übermäßige Betroffenheit zu. Mit Übereifer, das wissen sie inzwischen, kann man behinderten Menschen in große Schwierigkeiten bringen.
Rollstuhlgerecht In dem sogenannten Inklusive-Hotel, das der Landesverband für das Seminar ausgewählt hat, arbeiten Menschen mit Behinderung, darüber hinaus ist es rollstuhlgerecht. Auch bei der Inneneinrichtung sind die körperlichen Einschränkungen ihrer Benutzer berücksichtigt. «Einige Schränke sind besonders tief, auch die Badezimmer sind anders aufgebaut», erzählt Marko.
Häufig kann sich Tatjana Weber im Alltag nicht über solche Erleichterungen freuen. «Schlimm sind zum Beispiel Bankautomaten, die sind nur für stehende Menschen gedacht», sagt sie. Wer nicht selbst im Rollstuhl sitze, dem falle so etwas nicht auf. Und Stadtplaner berücksichtigten solche Umstände nicht. «›Man sieht nur das, was man ohnehin schon weiß‹, das hat mal eine Frau zu mir gesagt. Und das stimmt. Es ist schwer, die Barrieren für andere Menschen sichtbar zu machen – außer man hat immer und überall einen Rollstuhlfahrer um sich.»
Nach dem Rundgang im Haus und dem Rollenspiel, in dem Situationen erprobt wurden, sitzen die sechs jungen Leute im Kreis und tauschen mit Tatjana Weber ihre Erfahrungen aus. Am Rand steht noch eine Pinnwand mit Material vom Vortag. Auf ihr sollen sie notieren, welche Gedanken sie während des Seminars besonders faszinieren. «Behinderte Menschen wollen nicht bemitleidet werden», steht da.
Selbstbestimmt Illustrierend dazu erzählt Tatjana Weber: «Ich habe eine Wohnung, ein eigenes Auto, war berufstätig und studiere jetzt.» Noch immer aber begegnen ihr Menschen, die sich zu ihr hinunterbeugen und sie «tapfer» nennen. Über Hilfe freue sie sich manchmal aber doch, und dann würde sie auch darum bitten. Beim Einkaufen zum Beispiel, wenn Produkte zu hoch im Regal stehen.
Wenn Tatjana Weber über ihre Spastik spricht, dann bezeichnet sie sie als Handicap. «›Menschen mit Behinderung‹ ist doch total bescheuert. Ich schleppe meine Behinderung, meine Barrieren, ja nicht mit mir rum. Jeder hat auf irgendeine Weise Barrieren im Leben. Aber für eine körperliche Behinderung gibt es eine extra Schublade.»
Die werden diese sechs Jugendlichen nun nicht mehr öffnen. Sie wollen «Feuerträger» sein, Madlikim, und «Barrieren sowohl im Kopf als auch in der Umwelt beseitigen». Das haben sie in einer Erklärung formuliert. «Wir werden uns engagieren, aber eben nicht mehr übermotiviert an jeder Tür.» Weitere Treffen sollen folgen.