Welche Funktion hat der Kantor im Gottesdienst? Wie wird man Rabbiner oder Rabbinerin? Dürfen Juden am Schabbat eine E-Mail verschicken? Mit vielen Fragen wurde Noemi Berger am Ende einer Führung in der Stuttgarter Synagoge bestürmt. Mag sein, dass die Ehefrau des langjährigen Landesrabbiners Joel Berger als Gastgeberin des Abends alle Fragen schon kannte – freundlich, umfassend und gelassen gab sie Antwort. Der Besuch der Synagoge war der Abschluss einer Quartiersführung über jüdisches Leben im Hospitalviertel und zugleich eine der letzten Veranstaltungen der diesjährigen Jüdischen Kulturwochen in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs.
»Jüdisches Leben in Deutschland: 1700 Jahre – und wie weiter?« hatte der Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) als Verantwortlicher die 18. Jüdischen Kulturwochen Stuttgart getitelt. In 30 Veranstaltungen in den Bereichen Literatur, Kulturgeschichte, Theater, Religion, Geschichte, Film und Musik konnten sich Bürgerinnen und Bürger über jüdisches Leben gestern und heute informieren.
ZUKUNFT Schon bei der Eröffnungsveranstaltung am 25. Oktober im Haus der Wirtschaft hatte Josef Schuster einen Blick in die Zukunft gerichtet. »Nirgendwo spiegelt sich der Anteil des Judentums an der deutschen Geschichte so sehr wider wie in der Kultur«, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Blick auf jüdische Künstler mache deutlich, dass das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft war, und das sei auch heute so, ergänzte Schuster. Nur sei diese Verbindung vielen Menschen leider nicht bewusst. Deshalb gebe es bei den Jüdischen Kulturwochen unendlich viel zu entdecken, so der Zentralratspräsident.
Eine Quartiersführung im Hospitalhofviertel, wo heute die Mitglieder der IRGW, Besucher, Lehrer und Schüler in der Synagoge, dem Gemeinde- und Altenzentrum, der jüdischen Grundschule, in Kindertagesstätte und Jugendzentrum ein- und ausgehen, mag vor allem für junge Menschen eine Entdeckung sein. Befinden sich doch – ihnen meist bekannte – katholische wie protestantische Einrichtungen Tür an Tür.
Über eine »zusammenhängende Stadtgeschichte zum jüdischen Leben« könne er in der Kürze der Zeit nicht berichten, sagt der Historiker Roland Müller bei der Quartiersführung. Auch sei die Historie der jüdischen Familien und ihrer Gebäude sehr wechselvoll gewesen. 1343 wird erstmals der Name eines Juden in Stuttgart erwähnt. Dass Anfang des 14. Jahrhunderts noch weitere Familien in Stuttgart gelebt hatten, belegen die Existenz von »Judengasse«, »Judenschule« und »Judenbad«.
1828 wurde Juden das Untertanentum zugestanden, die uneingeschränkte staatsbürgerliche Gleichberechtigung erfolgte in den folgenden vier Jahrzehnten.
Roland Müller erinnert an die Zeit Herzog Eberhards im Bart (1445–1496). Der hatte im Jahre 1477 die Vertreibung der Juden aus dem Gebiet des Herzogtums Württemberg veranlasst. Lange Zeit lebten danach keine oder nur wenige Juden in der Residenzstadt. Das änderte sich erst mit dem Aufstieg Württembergs zum Kurfürstentum 1803 und zum Königreich 1806 sowie der Emanzipation. 1828 wurde Juden das Untertanentum zugestanden, die uneingeschränkte staatsbürgerliche Gleichberechtigung erfolgte in den folgenden vier Jahrzehnten.
1732 wurde Bankier Joseph Ben Issacher Süßkind Oppenheimer an den Hof von Herzog Karl Alexander von Württemberg als Finanzberater berufen - und nach dem Tod des Herzogs infolge eines Justizskandals als »Jüd Süß« diffamiert, 1738 zum Tode verurteilt, vor den Toren der Stadt hingerichtet und in einem eigens geschmiedeten Käfig »ausgestellt«.
NOVEMBERPOGROME Mit der Einrichtung eines ersten Betsaals in der Langen Straße 16 im Jahr 1837 rückte das Hospitalhofviertel in den Mittelpunkt jüdischen Lebens. 1856 erwarb die Gemeinde in der Hospitalstraße 36 einen Bauplatz. »Unter beträchtlichen finanziellen Opfern wurde ein repräsentatives Gotteshaus errichtet und 1861 eröffnet«, so Historiker Müller. Die Gemeinde hatte zu dieser Zeit etwa 800 Mitglieder.
Damals lebte schon die Familie Kaula in Stuttgart. Sie hatte 1802 die Württembergische Hofbank gegründet. 1895 kamen die ersten »ostjüdischen« Familien nach Stuttgart und errichteten einen eigenen Synagogenbau. 1933 lebten in Stuttgart etwa 4500 Juden. Bis Ende 1935 waren etwa 500 emigriert, Mitglieder von Landgemeinden kamen in die Landeshauptstadt.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannte auch die Stuttgarter Synagoge, die Kuppel stürzte ein, Mitglieder der Gemeinde wurden verhaftet, deportiert, ermordet. 24 Juden überlebten. Eine neue Gemeinde wurde gegründet, 1948 die Wiederrichtung der Synagoge durch Ernst Guggenheimer geplant, am 13. Mai 1952 wurde sie feierlich eröffnet. Heute zählen über 2500 Gemeindemitglieder zur Stuttgarter Gemeinde und ihren Außenstellen.
SANIERUNG Doch wie geht es weiter mit dem Hospitalviertel? Getrennt durch eine breite Autoschneise vom eigentlichen Herzen der Landeshauptstadt, war das Viertel länger ein architektonisches Stiefkind. Seit 2007 ist das Hospitalviertel offizielles Sanierungsgebiet.
Die Sanierung umfasst die unmittelbaren Nachbarn, die Hospitalkirche, das Bildungszentrum Hospitalhof, das Renitenztheater mit Gastronomie und neben weiteren Gebäuden die von Ernst Guggenheimer in den Jahren 1951 und 1952 erbaute Synagoge. Nachdem die IRGW zahlreiche Ein- und Umbauten nach Plänen des Architekten Jossi Abiry an ihren Gebäuden vorgenommen hatte, wurde im Sommer 2018 auch der Synagogenvorhof feierlich eingeweiht. Das Ende der gesamten Sanierungsmaßnahmen im Hospitalviertel ist auf 2023 datiert. Davon wird auch die IRGW profitieren.
Ein Lokal mit orientalischer Speisekarte wäre eine Bereicherung.
Schöne Zukunftsmusik? Die Hospitalstraße ist für den Durchgangsverkehr gesperrt. Zwölf Platten, symbolisch für die zwölf Stämme Israels, sind auf die verkehrsberuhigte Straße eingelassen. Die Sanierung der gegenüberliegenden Gebäude ist abgeschlossen. Im ebenerdigen Restaurant genießen Stadtflaneure orientalische Küche. Alles nur geträumt? »Nein, nachdem der Vorplatz der Synagoge neu gestaltet und ein barrierefreier Zugang zu Gemeindehaus und Synagoge geschaffen wurde, werden die noch anstehenden Arbeiten vermutlich fristgerecht erledigt werden«, sagt Susanne Jakubowski.
Und was die Gastronomie betrifft, will die Baubeauftragte der IRGW gern träumen. »Jeder kennt den israelischen Koch Yotam Ottolenghi und seinen palästinensischen Kollegen Sami Tamimi, die gemeinsam das Kochbuch Jerusalem verfasst haben«, so Jakubowski. Stuttgart gelte als Stadt mit einer friedlichen Bevölkerung; ein Restaurant mit gemischt-orientalischer Speisekarte als »Friedensangebot an alle« wäre eine Bereicherung.
»Wir haben beim Eigentümer Interesse für das Anmieten von Räumen gezeigt«, sagt Susanne Jakubowski. Für die Sicherheit im Viertel und die Zufahrt zur Tiefgarage an der Synagoge würden versenkbare Poller angeschafft, finanziert aus dem Staatsvertrag der baden-württembergischen Regierung mit Teilfinanzierung durch die IRGW.
FUNDRAISING Wer heute die Hospitalstraße betritt, läuft nicht nur in eine Baustelle, sondern gelegentlich auch ins Ungewisse. Der Eingang zu Synagoge und Gemeindehaus befindet sich eigentlich in der Hospitalstraße 36. Doch manchmal verweist ein Schild auf den Eingang Firnhaberstraße. Fußweg: einmal um den Block, fünf Minuten gehen. Von einem Gesamteindruck des Viertels kann an dieser Stelle nicht die Rede sein.
Mit dem Synagogenvorhof werde die Gemeinde viel stärker als bisher ins Bewusstsein der nichtjüdischen Bürger rücken.
Die örtliche Quartiersinitiative, der Hospitalviertelverein, hat sich auch bereit erklärt, mit einer Fundraising-Initiative die Symbolplatten mit den zwölf Stämmen Israels zu finanzieren. Barbara Traub freute sich schon 2018 sowohl über die Ankündigung der Spende wie auch auf das Ende der Sanierung. »Wir hoffen, dass die Stuttgarter Bürger künftig nicht mehr nur wissen, dass es in der Stadt eine Synagoge gibt, sondern dass sie auch wissen, wo sie steht«, so die Vorstandssprecherin der IRGW.
Mit dem Synagogenvorhof werde die Gemeinde viel stärker als bisher ins Bewusstsein der nichtjüdischen Bürger rücken. »Nicht mehr nur als jüdische Menschen, sondern auch als jüdische Gemeinde werden wir stärker wahrgenommen werden als Teil dieses Landes, als Teil der Stadt«, sagt Traub. Eine Hoffnung, die weit über die Jüdischen Kulturwochen hinausreicht.