In historischen Bildbänden sieht man sie manchmal, die oft sehr kunstvoll gestalteten Platzkarten, die vor den Hohen Feiertagen verkauft wurden. Dass das Recht auf einen Sitzplatz erkauft werden musste, gehörte zu den »Ist halt so«-Regeln früherer Zeiten, denn eine religiöse Begründung dafür gab es nicht.
Wie aber sieht es heute aus? In manchen Gemeinden sind Synagogenplatzkarten bis heute Tradition. In der Synagogen-Gemeinde Köln gibt es Staffelungen zwischen 160 und 15 Euro für einen Herrenplatz und 110 bis 15 Euro für einen Damenplatz. Mitgliedern, denen aus finanziellen Gründen die Platzmiete zu teuer ist, können sich laut Gemeindeblatt an die Geschäftsführung wenden. In der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden gibt es dagegen einen Einheitspreis: 25 Euro pro Sitz im Jahr.
Saarbrücken In vielen anderen Gemeinden werden dagegen keine Platzkarten angeboten. »Es ist leider heute nicht mehr so, dass die Synagoge wegen Überfüllung geschlossen werden muss«, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Saarbrücken, Richard Bermann, auf die Frage nach den Platzkarten. »Wir haben noch nie Synagogenplatzkarten vergeben«, erinnert er sich. Im Alter von sechs Jahren kam Bermann mit seinen Eltern aus Frankreich zurück, wohin sie vor den Nazis geflohen waren. »In Saarbrücken hatten die regelmäßigen Synagogenbesucher ihren festen Platz, dazu gehörte ein abschließbares Fach, in dem man Tallit und Gebetbuch deponieren konnte.«
Ein solches Fach können die Saarbrücker Juden auch heute noch in Anspruch nehmen: »Wir verlangen dafür keine Gebühren, sondern lediglich einen Betrag in Höhe von 26 Euro Pfand für den Schlüssel.« So viel koste es nämlich, wenn dieser verloren geht und vom Hausmeister ein neues Schloss eingesetzt werden muss.
Die meisten Mitglieder nehmen dieses Angebot allerdings nicht in Anspruch. »Wer keinen eigenen Siddur hat, kann sich aus unserem Regal das Buch mit den Gebeten herausnehmen und legt dann meistens keinen Wert auf ein eigenes Fach.« Viel wichtiger als Platzkarten und Fächer sei ohnehin die Minjangruppe, die dafür sorgt, dass zu jedem Gottesdienst genügend, nämlich zehn, erwachsene Männer anwesend sind, sagt Bermann: »Wir beginnen im Sommer schon um halb zehn morgens, durch diese Gruppe ist gesichert, dass die Gebete auch gesprochen werden können.«
Bamberg Im fränkischen Bamberg hat es niemals Platzkarten gegeben, sagt der Gemeindevorsitzende Martin Arieh Rudolph. »Es würde sich nicht lohnen, und offiziell haben wir keine festen Plätze, auch wenn die meisten regelmäßigen Besucher des Gottesdiensts immer an der gleichen Stelle sitzen.« In großen Gemeinden sei Platz an den Hohen Feiertagen vielleicht rar, »aber bei uns ist das nicht so, die Leute sitzen zwar etwas dichter gedrängt, aber Platz ist immer. Wir haben 900 Mitglieder, davon kommen zu den normalen Gottesdiensten nicht immer alle, weil unser Einzugsbereich sehr groß ist, im Norden reicht er bis an die thüringische Grenze, im Süden bis nach Mittelfranken.«
Am Freitagabend seien immer genug erwachsene Männer für den Minjan da, so Rudolph. »Dann können auch Gäste kommen, wir haben viele Anfragen von Nichtjuden, die gern einmal an einem jüdischen Gottesdienst teilnehmen wollen, ein Pfarrer besucht uns beispielsweise sehr regelmäßig.«
Hat Rudolph denn das Platzkarten-System nie selbst erlebt? »Ich komme aus Freiburg und Ulm. Soweit ich mich erinnere, gab es das auch in meiner Kindheit nicht«, sagt er. »Andererseits interessiert es einen in dem Alter vermutlich überhaupt nicht.«
Erfurt/Essen Auch in Thüringen sind Platzkarten unüblich, wie Landesrabbiner Konstantin Pal erklärt: »In der Erfurter Synagoge gibt es 168 Plätze. Diejenigen, die regelmäßig kommen, haben einfach so ihre festen Plätze.« Aber was passiert, wenn sich jemand aus Versehen auf einen Platz setzt, der, wenn auch informell, bereits vergeben ist? »Das ist gar kein Problem, da wird demjenigen dann halt gesagt, dass dort normalerweise schon jemand sitzt«, sagt Pal.
In der Jüdischen Gemeinde Essen ist es schon lange her, dass mit Platzkarten gearbeitet wurde. »In der Nachkriegszeit war es wohl so, denn Fächer und Sitze sind nummeriert, später hat sich das Prinzip dann wohl einfach nicht mehr durchgesetzt«, weiß Annette Altschaffel. Seit 1993 arbeitet sie in der Gemeinde, in dieser Zeit ist es nur einmal vorgekommen, dass jemand einen bezahlten Platz haben wollte. »Ich bekam wohl vor Überraschung kreisrunde Augen«, erzählt sie, »derjenige hatte das wohl in einer anderen Gemeinde so erlebt und wollte das nun in Essen auch so. Dann haben wir das eben gemacht für ihn.«
Darmstadt »Keine Platzkarten, aber Fächer, die man für 30 Euro mieten kann«, beschreibt Moritz Neumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, wie mit den Synagogenplätzen in der hessischen Stadt verfahren wird. »Als die neue Synagoge fertiggestellt wurde, nahm man 50 Mark für ein Fach – daraus sind heute 30 Euro geworden. Platzkarten haben wir aber immer noch nicht, auch nicht für die Hohen Feiertage. Wer ein Fach und den dazugehörigen Platz hat, behält ihn natürlich auch dann.« Für eine Gruppe junger Leute im Alter von 15, 16 Jahren, die nach ihrer Barmizwa regelmäßig zu den Gottesdiensten kommen, übernehme die Gemeinde die Fachmiete, »denn für sie ist das doch viel Geld«.
Recklinghausen Jana Stachevski von der Jüdischen Gemeinde Recklinghausen verneint die Frage nach Platzkarten ebenfalls. »Ich weiß, dass es sie in manchen, meist großen Gemeinden gibt, aber bei uns eben nicht.« Stachevski ist in Moskau aufgewachsen – eine gute Gelegenheit also, nachzufragen, ob Platzkarten in russischen Synagogen üblich sind.
»Wahrscheinlich ja«, sagt sie, »das liegt aber auch daran, dass es zum Beispiel in der Hauptstadt nur ganz wenige Synagogen gibt. Wenn alle Moskauer Juden gleichzeitig während der Hohen Feiertage zum Gottesdienst kommen wollen, sind nie genug Plätze für alle da. Aber feste Plätze sind noch weit mehr als eine Garantie, sitzen zu können: Sie sind eine Art von Spende für die Gemeinde. Und wer sehr fromm ist und immer zu den Gottesdiensten kommt, betrachtet es als Ehre, einen festen Platz zu haben.«
Dortmund In der mit über 3000 Mitgliedern recht großen Dortmunder Gemeinde sind Platzkarten ebenfalls unbekannt. Seit mindestens 30 Jahren wird diese Möglichkeit nicht mehr angeboten, weiß Geschäftsführer Alexander Sperling. Das liegt zum Teil auch daran, dass man das 1956 eröffnete Gemeindezentrum Ende der 90er-Jahre ausbauen konnte. »Zu den Hohen Feiertagen ziehen wir in den großen Multifunktionssaal, der 500 Plätze bietet. Die brauchen wir auch, denn es kommen immer mindestens 400 Leute. Er wurde architektonisch gleich so geplant, dass er auch als Synagoge dienen kann.«
Allgemeine Platzreservierungen gibt es in der Dortmunder Synagoge sehr wohl, allerdings als Fachmiete, und zu diesem Fach gehört ein bestimmter Platz. »Traditionell werden diese Reservierungen dann zu den Hohen Feiertagen erneuert – obwohl sie genau dann ja gar nicht gelten, da wir ja dann den Mehrzwecksaal benutzen«, sagt Sperling.
Doch ob sich nun Platzkarten, Fächer oder ein anderes System in den Gemeinden durchgesetzt haben: Abgewiesen werden Beter an den Hohen Feiertagen nur, wenn die Synagogen restlos überfüllt sind. Ansonsten müssen Gäste eben stehen.