Abraham David beugt sich über einen Grabstein und versucht, die hebräische Inschrift zu entziffern. Die Gravur aus dem Jahr 1844 ist fast nicht mehr lesbar. Die Zeit hat ihre Spuren in den Sandstein gegraben. Von manchen Steinblöcken fallen ganze Schichten ab, manchmal sind ausgerechnet in der letzten Zeile die Jahreszahlen nicht erkennbar. Genau die möchte der Kunsthistoriker erfahren, wenn es um Leben und Tod der jüdischen Gemeinde im thüringischen Barchfeld geht.
Abraham David ist Experte für hebräische Handschriften. 40 Jahre lang hat er an der Hebräischen Universität Jerusalem diesen Bereich der Bibliothek geleitet. Er kennt historische Torarollen, war jahrelang als Fachmann im internationalen Austausch und ist immer wieder fasziniert von der Kunst und Schönheit alter Texte.
Zuordnung Nun also Grabsteine in Thüringen. Vor einigen Monaten erreichte ihn die Anfrage, ob er nicht einen Blick auf ein paar Fotos werfen könne. Es fehlten Angaben zu Personen und Übersetzungen. Die Fotos allein waren nicht aussagekräftig, und so verband Abraham David eine Fachtagung in Mainz mit einem Besuch im kleinen Barchfeld, nahe Eisenach. Es galt und gilt noch immer, knapp 100 Grabsteinen die Geschichte derer zuzuordnen, die hier einst zur Gemeinde gehörten. Etwa 200 Personen der 600 Einwohner waren im 19. Jahrhundert jüdisch. Der Friedhof – einer von 35 in Thüringen – ist erhalten und zählt zu den schönsten und auch verborgensten, am Rande einer Straße gelegen, beschattet von hohen Bäumen.
Der Geschichtsverein des Ortes um den engagierten Klaus Schmidt und den evangelischen Pfarrer Michael Stahl bemüht sich seit Jahren um den Erhalt des Friedhofs, ebenso die Kommune und der CDU-Bürgermeister. Auch Ralph Groß ist an jenem Nachmittag anwesend. Er finanziert einen Teil der Reise des Gastes. »Wir wollen in unserem Ort die Geschichte erhalten und kenntlich machen, dass der jüdische Friedhof in unsere Mitte gehört, ein Teil von uns ist.«
Übersetzung Wolfgang Nossen, der ehemalige langjährige Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, kennt den Friedhof und hat in seiner Amtszeit einmal pro Jahr das Gelände besucht. Auch er zollt der Arbeit des israelischen Wissenschaftlers hohen Respekt, zumal dessen Familie und vor allem die seiner Frau eine tragische Holocaust-Geschichte hat.
Abraham Davids Vater stammt aus Gießen. Dort befinde sich sein Grab, sagt David mit nachdenklicher Stimme. Es ist eine Begegnung in Barchfeld, die bei allen Beteiligten Spuren hinterlässt, auch – und das ist erfreulich – bei den jungen Menschen des Ortes, die an jenem Tag helfen, die Steine zu übersetzen, und mit einem 74-jährigen israelischen Gast ins Gespräch kommen, dessen familiäre Wurzeln kaum 150 Kilometer entfernt im Hessischen liegen.