Zeitzeugin

Bestmöglich versorgt?

Um die angemessene Betreuung der Schoa-Überlebenden Inge Deutschkron ist eine Diskussion entbrannt

von Christine Schmitt  15.10.2021 14:24 Uhr

Inge Deutschkron sel. A. (1922–2022) Foto: Chris Hartung

Um die angemessene Betreuung der Schoa-Überlebenden Inge Deutschkron ist eine Diskussion entbrannt

von Christine Schmitt  15.10.2021 14:24 Uhr

»Die Einrichtung wurde im Juli dieses Jahres von der Heimaufsicht anlassbezogen und unangemeldet überprüft. Hierbei wurden Mängel und Defizite festgestellt.« Das teilt das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) auf Anfrage der Jüdischen Allgemeinen mit. Bei der Einrichtung handelt es sich um das »Pro Seniore« am Kurfürstendamm. Die bekannteste Bewohnerin dürfte derzeit Inge Deutschkron sein, denn es ist eine Auseinandersetzung darüber entstanden, ob die 99-Jährige dort gut versorgt wird oder ob sie lieber in ein Hospiz verlegt werden sollte.

Für Aufsehen sorgte ein Artikel im Tagesspiegel mit dem Titel »Sorge um Berlins Ehrenbürgerin Inge Deutschkron«, in dem die Zustände in der Seniorenresidenz angeprangert werden. Inge Deutschkron, die viele als energische, direkte und kämpferische Person kennen, kann dazu vermutlich nichts mehr sagen, da sie an Demenz leidet und intensive Betreuung benötigt.

HEIMAUFSICHT Am 14. Oktober waren Mitarbeiter der Heimaufsicht wieder vor Ort, um sich ein Bild zu machen, so Peter Müller, Pressesprecher von »Pro Seniore«. Die Einrichtung habe auf die Beschwerde reagiert und einige Mitarbeiter wie die Wohnbereichsleitung und Geschäftsführung durch ein Qualitätsmanagementteam ergänzt.

»Warum ist der gesundheitliche Zustand von Inge Deutschkron überaus bedenklich? Warum ist sie derart abgemagert, hat zu wenig Flüssigkeit und menschliche Nähe bekommen?«

Gabriella Meros, Vorsitzende des Vereins Respect & Remember Europe

»Ich bin persönlich sehr an ihrem Wohlergehen interessiert und frage jeden Tag nach ihr«, sagt Müller. Am Wochenende sei Inge Deutschkron mithilfe eines Rollstuhls sogar draußen gewesen. Aber sie sei nun nicht mehr jung, sondern in einem altersentsprechend körperlichen Zustand, und sie werde altersgerecht gepflegt.

Die Mitarbeiter der Einrichtung würden das ausführen, was die Ärzte vorschreiben. Das Heim werde sowohl vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen als auch von der Heimaufsicht kontrolliert, und es werde geschaut, ob die »Pflege so durchgeführt wird, wie sie gesetzlich vorgeschrieben und bezahlt wird«.

31 Bewohner leben auf der Station und würden von insgesamt zehn Mitarbeitern versorgt. Im Tagesbetrieb seien immer drei Fachkräfte und zusätzlich Hilfskräfte eingeplant.

EHRENBÜRGERIN 2018 wurde Inge Deutschkron noch mit der Ehrenbürgerschaft Berlins ausgezeichnet, und schon da las ihr Freund und mittlerweile amtlicher Betreuer, André Schmitz, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin, ihre Rede vor. »Die Menschen, die abgeholt wurden, sehe ich nachts noch vor mir«, ließ sie ausrichten. Etwas später konnte sie nicht mehr in ihren eigenen vier Wänden bleiben und zog in ein Apartment der Pro-Seniore-Einrichtung.

»Ich bin persönlich sehr an ihrem Wohlergehen interessiert und frage jeden Tag nach ihr.«

Peter Müller (»Pro Seniore«)

Doch auch da zeichnete sich ab, dass sie nicht mehr alleine wohnen konnte, zumal sie immer mehr an Traumata litt, weshalb sie in die Pflegeabteilung und in ein Zwei-Bett-Zimmer verlegt wurde. Der monatliche Eigenanteil liegt laut Kostentabelle des Heims bei mehr als 3000 Euro.

André Schmitz, der schon vor einigen Monaten eine Beschwerde bei der Heimaufsicht eingereicht hat, weshalb die Heimaufsicht kam, war auch schon zu der Erkenntnis gelangt, dass diese Pflege nicht reicht. »Ich habe deshalb einen Physiotherapeuten und eine Krankenschwester extra engagiert, die sich abwechselnd täglich um sie kümmern.«

Ihnen seien Missstände »immer auch zeitnah aufgefallen und konnten korrigiert werden«. Dazu gebe es fast jeden Tag Besuch, und er ist ebenfalls regelmäßig bei ihr. »Aber sie erkennt mich nicht mehr«, sagte Schmitz der Jüdischen Allgemeinen.

PFLEGENOTSTAND »Warum ist der gesundheitliche Zustand von Inge Deutschkron überaus bedenklich? Warum ist sie derart abgemagert, hat zu wenig Flüssigkeit und menschliche Nähe bekommen?«, fragt unterdessen Gabriella Meros, Vorsitzende des Vereins Respect & Remember Europe, der sich auch um Schoa-Überlebende kümmert. »Wir kennen den Pflegenotstand in Heimen und wissen, dass eine betagte Dame mit Demenz sehr viel persönliche Zuwendung und Zeit zur Nahrungsaufnahme benötigt.«

Seitdem ihr Zustand bekannt sei, habe sie sich als Vorsitzende des Vereins um eine rasche Verlegung in ein Hospiz-Zimmer bemüht. Es habe sich eine geeignete Institution mit großer Erfahrung und breitem Netzwerk angeboten, für Inge Deutschkron schnell ein Zimmer zu finden. »Die Kontaktdaten liegen dem Bevollmächtigten vor, der alleine durch seine Zustimmung eine Verlegung schnell veranlassen kann. Dort könnte sie so lange leben, wie sie möchte«, so Meros.

»Das Hospiz wird bei vorliegender Indikation von der Kasse bezahlt. Zusätzlich zum Hospiz sollte jeden Tag acht Stunden Pflegepersonal bezahlt werden, damit sie umfassend betreut wird«, so Meros. »Ehrenamtliche und Freunde können diese wichtige und kontinuierlichen Aufgabe auf Dauer nicht stundenlang stemmen. Sie können sie aber besuchen. Ich habe Inge Deutschkron immer sehr unabhängig und kämpferisch erlebt und frage mich, warum nicht mit ähnlicher Kraft und Energie für sie im hohen Alter gesorgt wird. Inge Deutschkron benötigt eine bestmögliche Versorgung, wie sie jeder Mensch es verdient«, sagte Meros der Jüdischen Allgemeinen.

Nach dem Krieg arbeitete Inge Deutschkron lange Zeit in Deutschland und Israel.

In dem erwähnten Text des »Tagesspiegels« heißt es unter Berufung auf Inge Deutschkrons direktes Umfeld: »Freunde der 99-Jährigen, die anonym bleiben möchten, sagen, von einem Abstellen der Missstände könne gar keine Rede sein. Die Zustände derart zu verharmlosen, verärgere sie.«

BIOGRAFIE Inge Deutschkron sind zahlreiche Gedenkorte wie etwa die Gedenkstätte Stille Helden im Haus der einstigen Blindenwerkstatt Otto Weidt zu verdanken, ebenso die jährliche Gedenkveranstaltung am Gleis 17 am Bahnhof Grunewald.

Sie wurde 1922 in Finsterwalde geboren. Sie und ihre Mutter waren in der Blindenwerkstatt Otto Weidt tätig und lebten später im Untergrund. Nach dem Krieg arbeitete sie lange Zeit in Deutschland und Israel. Sie schrieb das autobiografische Buch Ich trug den gelben Stern.

Am 14. Oktober schrieb André Schmitz noch erleichtert an diese Zeitung, dass der Palliativ-Arzt, der nun zum ersten Mal bei Inge Deutschkron war, ihren Zustand »als sehr positiv bewertet« habe und an der Pflege nichts auszusetzen hatte.

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025

Wilmersdorf

Chabad Berlin lädt zu Purim-Feier ein

Freude sei die beste Antwort auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 12.03.2025

Purim

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  11.03.2025 Aktualisiert