Schoa-Überlebender

Berufung Zeitzeuge

Jurek Szarf wurde 2020 das Bundesverdienstkreuz verliehen – für seinen Einsatz, als Zeitzeuge in Schulen zu sprechen. Foto: Inken Schmidt | Stodo.NEWS

Schuhe mit Schnürsenkel kann er bis heute nicht tragen. Wenn er ans Telefon geht, kann es sein, dass er sich mit der Nummer meldet, die ihm im KZ Königs Wusterhausen eintätowiert worden ist. Ebenso mag er sich kein Haus in Deutschland kaufen, sondern lebt lieber zur Miete in einem kleinen Ort bei Lübeck. Am 10. Dezember wird Jurek Szarf, Überlebender von drei KZs und Zeitzeuge in Schulen, 90 Jahre alt. Er werde diesen Tag mit ein paar Freunden und seiner Tochter und deren Familie verbringen. Für den Tag kommt sie extra aus Heidelberg, sein Sohn, der in Florida lebt, musste hingegen die Reise absagen.

Jurek Szarf hat lange geschwiegen, wie viele andere Überlebende auch. Mit seinen Kindern mochte er nicht über seine Lebensgeschichte sprechen, selbst mit seiner Frau nicht, obwohl sie 55 Jahre verheiratet waren.

Sie hätten nichts über ihn gewusst. Doch irgendwann, vor mehr als 20 Jahren, hätte ihm ein Psychiater geraten, dass er sprechen müsse, sonst könnte er krank werden. Und so begann er, seine Geschichte an Schulen zu erzählen und sie in seinem Buch Ich lebe, um zu überleben aufzuschreiben. Für seinen Einsatz, in Schulen und anderen Einrichtungen als Zeitzeuge zu sprechen, wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er habe es mit gemischten Gefühlen empfangen, sagte Szarf. »Als Jugendlicher wurde ich im KZ von Nazis bewacht, die mich erschießen wollten, nun stehen immer noch Polizisten mit Waffen vor der Synagoge. Da musste ich schon nachdenken, ob ich es annehme.« Doch er tat es.

Als er sechs Jahre alt war, brachen Nazis die Wohnungstür seiner Familie auf

Bis heute trage er nur Schuhe zum Hineinschlüpfen, sagt er. Als er sechs Jahre alt war, brachen Nazis die Wohnungstür seiner Familie auf, die in Lodz in Polen lebte. Seine Mutter wollte dem damals Sechsjährigen gerade die Schnürsenkel zubinden. Da er bis dahin keine schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht hatte, streckte er den Nazis zur Begrüßung seine Arme entgegen. Doch einer nahm ihn hoch und schleuderte ihn gegen eine Wand, sodass er ohnmächtig wurde, so erzählt er.

Der Sechsjährige, seine Eltern, seine Tante und seine drei Onkel wurden 1940 ins Ghetto Lodz deportiert, wo sie vier Jahre blieben. »Ich hatte immer Angst und ging deshalb kaum raus«, erinnert er sich. Sein Vater wurde als Ingenieur zur Zwangsarbeit eingezogen und musste in der Schneiderei die Produktion von Uniformen für die Wehrmacht leiten.

Als der Gauleiter Hans Biebow das Ghetto übernahm, suchte er für die Verwaltung eine Sekretärin mit perfekten Deutschkenntnissen. Da seine Tante auch in Berlin gelebt und ein deutsches Abitur hatte, wurden sie und eine weitere Frau angestellt. So wurde sie Sekretärin des Massenmörders – das habe ihnen das Leben gerettet. Sein Onkel bekam einen Job in der Brotverteilung, dadurch hätten sie alle etwas mehr zu essen gehabt.

»Meine Tante konnte mir im Ghetto eine ›Lebensbescheinigung‹ besorgen.«

Jurek Szarf

Als alle alten Menschen und Kinder aus dem Ghetto in Vernichtungslager abtransportiert wurden, besorgte ihm seine Tante eine »Lebensbescheinigung«. Biebow war Alkoholiker, sie hätte ihm im Suff ein Papier zur Unterschrift gegeben, das ihm den Verbleib im Ghetto erlaubte. Zusammen mit seiner Mutter und seiner Tante wurde er nach Auflösung des Ghettos 1944 zunächst ins Frauen-KZ Ravensbrück verlegt und kam dann kurze Zeit später in die zum KZ Sachsenhausen gehörige Außenstelle Königs Wusterhausen, wo er seinen Vater und mehrere Onkel wiedertraf.

Zusammen mit ihnen wurde er im April 1945 erneut verlegt, diesmal ins KZ Sachsenhausen. Zu jenem Zeitpunkt sei die Rote Armee nur noch wenige Kilometer entfernt gewesen. Die Nazis schickten 33.000 der noch verbliebenen 36.000 Häftlinge auf sogenannte Todesmärsche, die Tausende von ihnen, darunter auch zwei Onkel von Szarf, nicht überlebten. Als sein Vater und seine Onkel erschossen werden sollten, kamen sowjetische und polnische Soldaten und konnten sie gerade noch retten.

»In den letzten Wochen vor Kriegsende wurde fast meine ganze Familie ermordet«, sagt Jurek Szarf. Seine Mutter verhungerte im Lager Königs Wusterhausen, seine Tante wurde aus dem fahrenden Zug gestoßen, der eine Onkel erschossen, der andere erschlagen. Doch sein Vater und er überlebten und konnten gemeinsam ein paar Jahre in Berlin wohnen. In der Iranischen Straße fanden sie eine Unterkunft. Sein Vater hat seine Mutter später exhumiert und in Weißensee begraben.

Für zwei Jahre wollte die Familie nach Lübeck. Doch sie blieb.

Jurek Szarfs Ängste gingen nicht weg. »Ich war großer Jazz-Fan, und als 1946 ein Film über einen der großen Jazz-Musiker im Kino gezeigt wurde, erzählte ich meinem Vater davon. Er sagte, ich könne ihn mir doch ansehen. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, weil ich glaubte, dass ich als Jude (noch immer) nicht ins Kino gehen dürfte.« Sein Vater starb an den Spätfolgen der Lagerhaft. Daraufhin kam Jurek in ein Kinderdorf und anschließend zu einem Onkel in die USA. »Ich zog zu ihm nach New York und arbeitete als Kurier und im Versandhaus.« Doch dann vermittelte ihm ein Bekannter einen neuen Job. »So bin ich in der Filmbranche gelandet und lernte Cutter.« 1956 wurde er amerikanischer Staatsbürger.

»Ich habe hier eine neue Generation Deutscher kennengelernt«

Kurz darauf lernte er seine Frau kennen, die auch aus Deutschland stammte. Sie heirateten, bekamen zwei Kinder, er verdiente gut beim Film, und sie hatten ein Haus auf Long Island. Nebenbei verkaufte er Perlen. Doch 1972 war er der Meinung, dass ihre beiden Kinder nicht ohne Großeltern aufwachsen sollten. Sein Vorschlag: für zwei Jahre nach Lübeck ziehen. Sie blieben. »Ich habe hier eine neue Generation Deutscher kennengelernt. Eine, die gar nichts mit den Nazis zu tun hatte, liebe, normale Leute. Ich kannte Deutsche nur als Verbrecher, die mich als ›Judensau‹ und ›dreckiger Judenjunge‹ beschimpft hatten.«

Als Importeur von Zuchtperlen konnte er auch von Deutschland aus arbeiten. Doch diese Arbeit gehört längst der Vergangenheit an, denn er geht seiner anderen Berufung nach: als Zeitzeuge Schülern von seinen Erlebnissen zu berichten. Mehrmals im Monat besucht er Schulen. Auch sonst sei sein Tag ausgefüllt, denn er muss einkaufen und seinen Haushalt führen, Zeitungen lesen und Vorträge halten.

Viele seiner Freunde sind mittlerweile verstorben. Unter ihnen waren auch etliche Schoa-Überlebende. Wenn er Freunde trifft, notiert er nie ihren richtigen Namen im Kalender – aus Angst, dass derjenige in Schwierigkeiten geraten könnte, weil er mit einem Juden etwas zu tun hat. »Außerdem bekommen bis heute alle Bekannten eine Art ›Decknamen‹ von mir. Jüdisch sein ist wie Rucksacktragen – diesen Rucksack kann man nicht ablegen, man hat ihn immer bei sich.«

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